Kooperation mit den Liberalen
1871 bis 1878
Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches erfolgte mit breiter Zustimmung der Bevölkerung. Aber nicht alle Deutschen brachen in Freudentaumel aus. Den einen missfiel, dass die deutsche Frage kleindeutsch und mit zentralstaatlichen Institutionen beantwortet worden war. Andere kritisierten die angewandten militärischen Mittel. Als mangelhaft galt vielen auch das politische System, wie sich etwa in einem Aufruf des liberalen Offenburger Politikers Carl Eckhard widerspiegelte. Man müsse „dem nun geeinigten Deutschland mit der Zeit erringen, was unserem Einigungswerk die letzte und höchste Weihe erteilt – eine gesunde Entwicklung des gesamten Verfassungslebens des deutschen Staates.“
Die Verfassungsordnung des Deutschen Kaiserreichs
Die Erfüllung von Eckhards Wunsch schien keineswegs unrealistisch. Denn den unübersehbaren konservativen Beharrungstendenzen standen bemerkenswerte Elemente des Aufbruchs gegenüber. Dies verdeutlicht schon ein Blick in die Reichsverfassung: Das Kaiserreich war eine konstitutionelle und föderale Monarchie, in der die Fürsten die oberste Staatsgewalt ausübten. Als Präsidium des Bundes fungierte der Kaiser gemeinsam mit dem Bundesrat. Ein allein ihm verantwortlicher Reichskanzler führte die Regierungsgeschäfte.
Durch die Gewaltenteilung, durch das allgemeine Wahlrecht, das eine „Fundamentalpolitisierung“ (Hans-Peter Ullmann) der Bevölkerung bewirkte, und durch die Grundrechte, die sich in den Landesverfassungen fanden, war das Kaiserreich kein reiner Obrigkeitsstaat. Eine parlamentarische Monarchie kann es aber nicht genannt werden. Die Verfassungsordnung enthielt jedoch durchaus Möglichkeiten zur Weiterentwicklung in Richtung auf ein parlamentarisches System.
Bismarcks Zusammenarbeit mit den Liberalen
In den ersten Jahren nach der Reichsgründung arbeitete Bismarck auf der parlamentarischen Ebene vor allem mit den Nationalliberalen zusammen. Mit ihrer Zustimmung konnte eine Fülle grundlegender Reformen verabschiedet werden: das Handelsgesetzbuch, ein einheitliches Strafgesetzbuch, ein neues Aktienrecht, die Einführung einer gemeinsamen Währung sowie reichsweit geltender Maße und Gewichte. Die Federführung lag dabei weitgehend beim Präsidenten des Reichskanzleramtes Rudolf Delbrück. Bismarck schaltete sich in die legislativen Prozesse nur selten ein. Er trug die liberale Wirtschaftspolitik aber entschieden mit, weil sie für ihn die Voraussetzung ökonomischer Prosperität und damit politischer Stabilität war. Auch im Kulturkampf kooperierten beide Seiten fast reibungslos zusammen.
Aus Sicht der Nationalliberalen ließen die erzielten Erfolge hoffen, dass der „Einheit“ des Deutschen Reiches bald auch die „Freiheit“ folgen würde. Doch diese Träume zerplatzten, als die liberalen Ideen infolge der „Großen Depression“ von 1873 diskreditiert wurden. Mit dem weltweiten wirtschaftlichen Einbruch geriet das Reich finanziell wie ökonomisch in eine Schieflage. Obwohl mit Ausnahme des Agrarsektors ab Ende der 1870er-Jahre eine gewisse Erholung einsetzte, löste sich der Konsens über die bisher geltenden wirtschaftlichen und sozialpolitischen Grundsätze mehr und mehr auf.
Die innenpolitische Wende von 1878
Als die Liberalen bei den Reichstagswahlen 1878 ihre parlamentarische Schlüsselstellung verloren, schien es aus Bismarcks Perspektive offenbar nicht mehr möglich zu sein, die zentralen politischen Fragen liberal zu beantworten. Er flüchtete sich daher in einen fundamentalen innenpolitischen Richtungswechsel und beendete damit die liberale Ära seiner Reichskanzlerschaft. In der Folge wurde der Freihandel durch ein breites Schutzzollsystem ausgetauscht, der Kulturkampf abgeschwächt und das Sozialistengesetz durchgesetzt. Diese tiefe Zäsur in der Geschichte des Kaiserreichs enttäuschte die Liberalen schwer, hatte sie doch die Kooperation mit der Monarchie nicht der ersehnten bürgerlichen Freiheit nähergebracht.
Bismarck ging es aber nicht nur um einen Wechsel von einer liberalen zu einer konservativen Politik; das Streben nach neuen Steuereinnahmen des Reiches verdeutlichte vielmehr, dass er mit der innenpolitischen Wende auch die Stärkung der Reichsinstitutionen beabsichtigte.