„Kanzler ohne Amt“

    1890 bis 1898

    Der Lotse geht von BordDropping the pilot, Karikatur von John Tenniel, erschienen in: Punch, 29. März 1890 (Reproduktion © Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Erleichterung und Bestürzung

    Als Bismarck nach seiner Entlassung aus allen Ämtern durch Kaiser Wilhelm II. am 29. März 1890 vom Lehrter Bahnhof aus Berlin verließ, verabschiedete ihn eine große Menge mit frenetischem Jubel. Aus der Sicht seiner Anhänger besaß der Rücktritt des Reichskanzlers beinahe globale Bedeutung. „Seit Themistokles hat die Welt ein so tragisches Schicksal nicht mehr gesehen“, schrieb Heinrich von Treitschke. Auch das Ausland reagierte mit Bestürzung und Besorgnis.

    Ausgestattet mit einer Jahrespension über 18.000 Mark, zog sich Bismarck grollend nach Friedrichsruh zurück. Bald musste er erkennen, dass sich in der Bevölkerung neben dem Gefühl der Erschütterung auch Erleichterung breit machte. Endlich schien der Weg des Deutschen Reiches frei für einen Kurs, der der Dynamik der Zeit mehr entsprechen würde. „Es ist ein Glück, daß wir ihn los sind. Viele Fragen werden jetzt besser, ehrlicher, klarer behandelt werden als vorher“, frohlockte Theodor Fontane. Und der junge Harry Graf Kessler notierte nach einem Besuch des Alt-Reichskanzlers: „Je länger man zuhörte, um so stärker zwang sich einem die Erkenntnis auf, daß [… er] uns jungen Deutschen als Lebenszweck ein politisches Rentnerdasein [bot], die Verteidigung und den Genuß des Erworbenen; unser Schaffensdrang ging leer aus.“

    Kultische Verehrung

    Der „Schaffensdrang“ des jungen Kaisers ging nicht wenigen Deutschen bald zu weit. Und je mehr Unzufriedenheit die als „Neuer Kurs“ deklarierte Politik Wilhelms II. verursachte, desto stärker projizierten die Deutschen ihre unerfüllten Wünsche in den Alten im Sachsenwald. Zu seinem 80. Geburtstag 1895 wurde der Jubilar mit etwa 450.000 Glückwunschzuschriften überschüttet.

    Bismarck genoss die kultische Verehrung nicht nur, er befeuerte sie noch: Er ließ zwar das Reichstagsmandat ruhen, das ihm die Nationalliberalen angetragen hatten. Seiner Kritik an der Innen- und Außenpolitik seines Nachfolgers Leo von Caprivi ließ der „Kanzler ohne Amt“ (Manfred Hank) jedoch freien Lauf. Bedenklich erschien Bismarck nicht nur das Ende des Sozialistengesetzes, sondern auch die Nichterneuerung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages und die Intensivierung der Kolonialpolitik. Das Reich müsse das bewahren, was die Gründer „mühsam unter dem bedrohenden [...] Gewehranschlag des übrigen Europa ins Trockene gebracht haben“, lautete sein Credo.

    Der Reichskanzler außer Dienst nahm die Politik der Regierung in wortgewaltigen Reden und zahlreichen Presseartikel aufs Korn. Auf diese Weise wollte er nicht nur die – von ihm so empfundenen – Fehlentwicklungen stoppen. Es ging ihm auch darum, seinen Nachruhm zu sichern.

     HumoristischeBltter Bismarck CapriviDer Pensionär Bismarck vermisst seinen Sohn Herbert. Für ihn scheint der Speer mit der Aufschrift „Gegen Caprivi“ deutlich zu groß zu sein. Die Karikatur ist in den Humoristischen Blättern erschienen. (Gemeinfrei)

    „Wahrer Chef der Opposition“

    Den Höhepunkt erreichte die Fehde zwischen Friedrichsruh und Berlin im Sommer 1892. Anlässlich der Vermählung von Bismarcks ältestem Sohn Herbert in Wien bat Kaiser Wilhelm II. Kaiser Franz Joseph I. darum, dem Altreichskanzler eine Audienz zu verwehren. Bismarck bewertete diese Einmischung in einem Interview als endgültigen Bruch. Auf seiner Rückreise nach Friedrichsruh kritisierte er die Regierungspolitik in öffentlichen Reden unverblümt.

    Der Strom von Verehrern, die in den folgenden Jahren in den Sachsenwald pilgerten oder Bismarck in seinen Kurorten zujubelten, schwoll auf zuvor unbekannte Ausmaße an. Aus Sicht ausländischer Beobachter stieg er zum „wahren Chef der Opposition“ auf (Camille Barrère).

     WilhelmII in FriedrichsruhKaiser Wilhelm II. besucht 1894 und 1897 den Altreichskanzler in Friedrichsruh, um einen politischen Bruch zu vermeiden. Die Fotografie von M. Ziesler, Berlin, zeigt einen früheren Besuch am 29./30. Oktober 1888 (Sammlung der Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Die politische Führung in Berlin hatte kein Interesse an einem Bruch mit dem ehemaligen Regierungschef. Seinen Ratschlägen zu folgen, kam für sie aber nicht infrage. Daran änderten auch ein vom Hof arrangiertes Versöhnungstreffen Anfang 1894 in Berlin und ein Besuch Wilhelms II. in Friedrichsruh 1895 nichts. Nachdem der Altreichskanzler ein Jahr darauf die streng geheimen Umstände der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages hatte veröffentlichen lassen, drohte der Kaiser sogar mit Festungshaft. In seiner berüchtigten „Pygmäenrede“ degradierte Wilhelm II. Bismarck zum bloßen „Handlanger“ seines Großvaters Wilhelm I.

     

    „Meine Trompete ist durchlöchert“

    Aufgrund der zunehmenden körperlichen Hinfälligkeit ließen Bismarcks Interventionen mehr und mehr nach. Nach dem Tod seiner Ehefrau Johanna 1894 hatte er gehofft, ihr bald folgen zu dürfen. Denn das Alter hielt nur noch Bitterkeit und Vereinsamung bereit. „Meine Trompete gibt keinen Ton mehr, sie ist durchlöchert“, klagte Bismarck gegenüber seinem Hausarzt. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er von der Familie vor der Öffentlichkeit weitgehend abgeschottet auf seinem Altersruhesitz vor den Toren Hamburgs. Am 30. Juli 1898 starb er.

     


    Video: Der Lotse geht von Bord

    Die berühmte Karikatur „Der Lotse geht von Bord“ und ein Gemälde des Malers Franz von Lenbach – zu sehen in unserer Dauerausstellung im Historischen Bahnhof Friedrichsruh – erzählen von dem Ende einer Kanzlerschaft, die die deutsche Geschichte prägte.

    Der Lotse geht von Bord