Bismarcks Sozialgesetzgebung

    1881 bis 1890

    Die soziale Frage

    Durch die rasante Industrialisierung vergrößerte sich im 19. Jahrhundert die Arbeiterschaft deutlich. Die soziale Frage wurde damit immer wichtiger. Die bedrückenden Arbeits- und Lebensbedingungen, eine grassierende Wohnungsnot und die fehlende politische Gleichberechtigung verlangten nach umfassenden Antworten. Seit den 1860er-Jahren boten zwei Parteien sehr unterschiedliche Konzepte für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse: Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein von Ferdinand Lassalle setzte auf die Hilfe des Staates. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei von Wilhelm Liebknecht und August Bebel propagierte den Klassenkampf.

     Zille Mllsammler1Müllsammler, Zeichnung von Heinrich Zille (Stiftung Stadtmuseum Berlin, gemeinfrei)

    Blockierte Debatten
    Auch Bismarck sah die Linderung der sozialen Missstände nicht als reine Parteiangelegenheit, sondern als Aufgabe des Staates. Schon 1863/64 beriet er sich mit Lassalle über die Umrisse einer sozialen Monarchie und über die Einführung einer staatlichen Sozialhilfe. Nach dem frühen Tod des Arbeiterführers begnügte er sich mit der Bekundung guter Absichten. Als sein Mitarbeiter Hermann Wagener ihm 1872 ein Konzept für eine Sozialreform vorlegte, ließ er die Chance ungenutzt, daraus ein politikfähiges Programm zu formen.

    Mit den innenpolitischen Verwerfungen infolge der „Gründerkrise“ und der Weltwirtschaftskrise erreichte die Not der Arbeiter seit Mitte der 1870er-Jahre eine neue Dimension. Massenentlassungen und soziale Missstände erhöhten den Druck auf die Reichsregierung. Die Verabschiedung des „Sozialistengesetzes“ von 1878 sollte die Lage weiter verschärfen. Dennoch verliefen die Debatten über eine Reform des Arbeitsschutzes oder den Abbau der Bevormundung der Arbeiterschaft zunächst ohne Erfolg. Auch bei der Altersversorgung blieben die Arbeiter weitgehend auf sich allein gestellt.

    Erst die Idee des Großindustriellen Carl Stumm, eine Pflichtversicherung für Alter und Invalidität einzurichten, brachte 1879 den Durchbruch. Denn auch Bismarck erkannte nun die Notwendigkeit, die Sozialpolitik auf ein neues Fundament zu stellen.

    Unfall in der Maschinenfabrik Zeichnung J Bahr 1889Unfall in der Maschinenfabrik. Zeichnung von Johann Bahr, als Schwarz-Weiß-Zeichnung erschienen in: Illustrierte Zeitung Nr. 2402, Leipzig 1889.
    Kolorierter Druck (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

     

    Die Kaiserliche Botschaft von 1881

    Im Herbst 1881 legte der Reichskanzler dem Kaiser ein sozialpolitisches Programm vor, das Wilhelm I. im Reichstag präsentieren sollte. Da Bismarck zugleich erwog, das Sozialistengesetz aufzuheben, weigerte sich der Monarch, diese Rede zu halten. Bismarck trug die Kaiserliche Botschaft deshalb am 17. November 1881 selbst vor, beschränkte sich hinsichtlich des Sozialistengesetzes allerdings auf den vielsagenden Hinweis: Die „Heilung der sozialen Schäden“ sei „nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen“. Sodann skizzierte er die zentralen Elemente seines umfangreichen Konzepts, das neben drei verschiedenen Sozialversicherungstypen auch das Prinzip der Selbstverwaltung vorsah.

     

    Bismarcks Sozialgesetzgebung

    Die Umsetzung erfolgte in drei großen Schritten. Ende Mai 1883 verabschiedete der Reichstag ein Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter. Es führte die Zahlung von Krankengeld bis zu 26 Wochen, die Kostenübernahme für medizinische Behandlungen und Arzneien, die Unterstützung von Wöchnerinnen sowie ein Sterbegeld ein. Die Beiträge trugen die Arbeitgeber zu einem und die Arbeitnehmer zu zwei Dritteln.

    Im Juli 1884 beschloss der Reichstag ein Unfallversicherungsgesetz, durch das dem Opfer eines Betriebsunfalls eine medizinische Heilbehandlung und die Gewährung einer Unfallrente zugestanden wurden. Die Finanzierung erfolgte per Umlageverfahren, wobei die Arbeitgeber die Beiträge vollständig übernahmen.

    Im Juni 1889 erließ der Reichstag ein Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Es billigte den Arbeitnehmern ab dem 70. Lebensjahr eine finanzielle Grundsicherung zu. Angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung von vierzig Jahren kam es allerdings nur wenigen Rentnern zugute. Die vom Reich bezuschussten Beiträge wurden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte gezahlt.

     Statistik SozialgestzgebungZeitgenössische Darstellung der Einnahmen und Ausgaben der Invaliden-, Unfall- und Krankenversicherung (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Der fehlgeschlagene Versuch, die Arbeiterklasse zu „bestechen“

    An der konkreten Ausgestaltung des seinen Namen tragenden Gesetzgebungswerks hatte Bismarck höchst unterschiedlichen Anteil. Meist gingen die Initiativen von seinen Beratern Theodor Lohmann oder Robert Bosse aus. Echtes Interesse brachte der Reichskanzler nur der Durchsetzung der Unfallversicherung entgegen. Das moralische Bestreben zur sozialen Gerechtigkeit kann ihm zwar nicht abgesprochen werden. Im Vordergrund stand aber ein anderes Kalkül. „Mein Gedanke war“, so gab er selber einmal offen zu, „die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen“.

    Bismarcks Sozialversicherungssystem sollte den Schutz der Arbeiter unzweifelhaft verbessern und galt daher europaweit zu Recht als vorbildlich. Die Lösung der politischen Aspekte der sozialen Frage gelang dem Reichskanzler nicht, der Anspruch der Arbeiter auf (Mit-)Gestaltung des politischen Systems blieb unerfüllt.

     


    Video: Aufbruch in die Moderne

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte die Industrialisierung die Lebensverhältnisse vieler Menschen in einem zuvor unbekannten Ausmaß. Reichskanzler Otto von Bismarck reagierte auf die vielen sozialen Härten mit einer modernen Sozialgesetzgebung, wie das Video „Aufbruch in die Moderne“ zeigt. Die Sozialdemokratie als Vertreterin der Arbeiterschaft aber sollte in ihren politischen Möglichkeiten beschränkt bleiben – mit dramatischen Folgen.

    Aufbruch in die Moderne