Der Kampf gegen „Reichsfeinde“

    1871 bis 1890

    Die überwiegende Mehrheit der Deutschen hatte der Reichsgründung von 1871 zugejubelt. Es gab aber breite Bevölkerungsgruppen, die nicht einmütig hinter der Reichseinigung standen: die Sozialdemokraten, die in der Zentrumspartei organisierten Katholiken sowie die ethnischen Minderheiten. Bismarck unterstellte ihnen, nicht treu zu Kaiser und Reich zu stehen, und fühlte sich daher berechtigt, sie als „Reichsfeinde“ zu bekämpfen.

     

    Feldzug gegen den politischen Katholizismus

    Bismarcks erster politischer Feldzug richtete sich gegen den politischen Katholizismus. Dieser war vor allem durch zwei Entscheidungen von Papst Pius IX. geprägt: 1864 hatte er den „Syllabus errorum“, ein Verzeichnis von „Irrtümern“, sowie 1870 das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma verkündet. Seitdem galt der katholische Klerus unter europäischen Liberalen als Hort der Reaktion. Auch Bismarck, der weltanschaulich kein Liberaler war, nahm diese Position ein. Ein Bündel von Motiven leitete ihn dabei: die Überzeugung, dass der „tausendjährige Kampf zwischen der weltlichen und geistlichen Gewalt“ in eine neue Runde gehe; die Abneigung gegenüber dem großdeutsch und föderalistisch orientierten politischen Katholizismus; die Furcht vor der vom Klerus unterstützten polnischen Unabhängigkeitsbewegung in den preußischen Ostprovinzen; die Sorge um eine „Einkreisung“ Deutschlands durch die mehrheitlich katholischen Mächte Frankreich, Italien und Österreich-Ungarn.

     1875 Zwischen Berlin und Rom KarikaturZwischen Berlin und Rom, Karikatur, erschienen in: Kladderadatsch, Heft 22 und 23, 16. Mai 1875 (gemeinfrei)

    Ausgefochten wurde die Fehde mit dem politischen Katholizismus sowohl durch einzelne Bundesstaaten als auch auf der Reichsebene. Anfang 1871 forderte die katholische Zentrumsfraktion des Reichstags die Reichsregierung dazu auf, den Vatikan gegen den Machtanspruch des Königreichs Italien zu verteidigen und die preußischen Grundrechte zur Religionsausübung in der Reichsverfassung zu verankern. Bismarck hatte schon die Gründung der Zentrumspartei 1870 als „Mobilmachung“ gegen den Staat gedeutet. Nach ihrer parlamentarischen Intervention im Reichstag sah er Gefahr im Verzuge. Im Herbst 1871 ließ das Reich einen „Kanzelparagraphen“ in das Strafgesetzbuch einfügen, durch den politische Äußerungen von Geistlichen mit Haftstrafen bedroht wurden.

     

    Kulturkampf

    Der eigentliche „Kulturkampf“ (Rudolf Virchow) begann dann 1872 in Preußen. Nachdem der neue Kultusminister Adalbert Falk ein Gesetz eingebracht hatte, das Schulen geistlicher Kontrolle entzog, kam es im Abgeordnetenhaus erneut zu einer schweren Auseinandersetzung mit der Zentrumsfraktion. Wenig später zerbrachen die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan, da Papst Pius IX. die Ernennung von Kardinal Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Botschafter ablehnte. Bismarck schleuderte der katholischen Partei daraufhin in Erinnerung an den Bußgang von Kaiser Heinrich IV. 1077 zu Papst Gregor VII. den berühmten Satz entgegen: „Nach Canossa gehen wir nicht“. Wenig später wurde auf Reichsebene der Jesuitenorden verboten. Mit den „Maigesetzen“ des Jahres 1873 verlangte Preußen von allen katholischen Geistlichen eine universitäre Ausbildung. Jede Amtsübernahme machte der Landtag von der Zustimmung staatlicher Stellen abhängig. Anfang 1874 führte Preußen die obligatorische Zivilehe ein, das Reich sollte ihm ein Jahr später folgen.

    Ein Attentat des katholischen Handwerksgesellen Eduard Kullmann auf Bismarck heizte den Kulturkampf weiter an. Nachdem der Papst die Kirchengesetze für ungültig erklärt hatte, reagierte Preußen 1875 mit einer neuen Welle von Maßnahmen. Fast alle Orden und ordensähnlichen Gemeinschaften wurden verboten, die Zahlung staatlicher Leistungen an kirchliche Einrichtungen eingestellt, unbotmäßige Priester und Bischöfe mit drakonischen Strafen verfolgt.

     Pistole Attenat BismarckPistole, Metall/Nussbaum; Tatwaffe von Eduard Kullmann, 13. Juli 1874 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung / Fotograf: Jürgen Hollweg)

    „Milderungs-“ und „Friedensgesetze“

    Der starke Stimmenzuwachs des Zentrums bei den Reichstagswahlen 1877 und 1878 führte Bismarck vor Augen, dass sich Klerus und Kirchenvolk nicht auseinandertreiben ließen. Der Rücktritt von Kultusminister Falk, der Bruch mit den Nationalliberalen und die Wahl des umgänglichen Papstes Leo XIII. 1878 ermöglichten ihm einen Kurswechsel. Zwischen 1880 und 1883 verabschiedete der preußische Landtag drei „Milderungsgesetze“, durch die die Kulturkampfverordnungen entschärft wurden. Zu einem echten Ausgleich war Bismarck aber trotz langwieriger Verhandlungen mit der Kurie nicht bereit. Mit zwei „Friedensgesetzen“ schaffte Preußen 1886/87 lediglich das „Kulturexamen“ ab, es akzeptierte die päpstliche Disziplinargewalt über die Geistlichen und leitete die Wiederzulassung der kirchlichen Orden mit Ausnahme der Jesuiten ein.

     

    Kampf gegen die Sozialdemokratie

    Wie in einem System kommunizierender Röhren ging die Entspannung im Verhältnis zum politischen Katholizismus mit einer Zuspitzung in den Beziehungen zur Sozialdemokratie einher. Eigentlich übte die Arbeiterpartei im Reichstag seit 1871 aufgrund ihrer wenigen Sitze nur bescheidenen Einfluss aus. Aber ihr Wortführer August Bebel beschwor das Gespenst der Revolution und forderte eine „Expropriation der Expropriateure“ (die Enteignung der Besitzer von Produktionsmitteln). Damit erzeugte er bei Bismarck einen „Alpdruck der Revolution“.

    Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. gaben dem Reichskanzler 1878 den willkommenen Vorwand, seinen „Alpdruck“ zu beseitigen. Ohne jeden Nachweis einer sozialdemokratischen Mittäterschaft verabschiedete der Reichstag ein „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Es verbot sozialdemokratische Vereine sowie Presseerzeugnisse und erlaubte den Sicherheitsinstanzen die Verhaftung und Ausweisung „sozialistischer Agitatoren“. Anders als von Bismarck erhofft, erwies sich das Sozialistengesetz als ebenso stumpfes Schwert wie die Kulturkampfgesetzgebung. Dennoch plädierte er 1889 für eine unbefristete Verlängerung. Damit aber konnte er sich bei Kaiser Wilhelm II. nicht durchsetzen. Kurz nach dem Sturz des Reichskanzlers im März 1890 lief das „Sozialistengesetz“ aus.

     SozialistengesetzGesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 22. Oktober 1878 (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

    Kampf gegen die nationalen Minderheiten

    Einen konfrontativen Kurs fuhr Bismarck auch gegen die 1,5 Millionen Elsässer und Lothringer, 80.000 Dänen und zwei Millionen Polen auf dem Territorium des Deutschen Reiches. Um das Zugehörigkeitsgefühl zu ihren jeweiligen Nationen zu brechen, betrieb er eine Politik der Germanisierung, die den preußisch-deutschen Staat strategisch-militärisch sichern sollte. Die den Dänen in Nordschleswig 1866 vertraglich zugesicherte Volksabstimmung über einen möglichen Anschluss an Dänemark blieb toter Buchstabe. Elsass und Lothringen erhielten den Sonderstatus eines Reichslandes und wurden zunächst dem Kaiser, dann einem Statthalter unterstellt. Als besonders unzuverlässig galt ob ihrer Hoffnung auf die Wiederherstellung der polnischen Nation die Bevölkerung im Großherzogtum Posen und in der Provinz Westpreußen. 1885 wurden 30.000 Polen auf Anordnung der preußischen Regierung in den polnischen Teil Russlands abgeschoben. Ein Jahr darauf verabschiedete der Landtag ein Gesetz zur Förderung der Ansiedlung deutscher Bauern in den Ostgebieten. 1887 schaffte das preußische Staatsministerium den polnischen Sprachunterricht in den Volksschulen Posens und Westpreußens ab.

     Wojciech Kossak Rugi pruskie Museum TorunAb 1885 wurden 35.000 Polinnen und Polen, die die russische oder österreichische Staatsangehörigkeit besaßen, aus dem Königreich Preußen ausgewiesen. Etwa 10.000 von ihnen waren Jüdinnen und Juden. Rugi pruskie, Gemälde von Wojciech Kossak (Sammlung des © Bezirksmuseums Toruń, mit freundlicher Genehmigung)

    Bilanz der „innerstaatlichen Einigungskriege“

    Im Gegensatz zu den „zwischenstaatlichen Einigungskriegen“ gegen Dänemark, Österreich und Frankreich sollte Bismarck die drei „innerstaatlichen Einigungskriege“ (Dieter Langewiesche) nicht gewinnen. Als er 1890 aus dem Amt schied, war der Kulturkampf mit schweren Blessuren beendet. Das Sozialistengesetz wurde von seinen Nachfolgern nicht verlängert. Und die Grenze nach Osten musste wegen eines akuten Arbeitskräftemangels für Polen wieder geöffnet werden. Alle vermeintlichen „Reichsfeinde“ gingen gestärkt aus den Auseinandersetzungen hervor.

     Keeping it downKeeping it down, Karikatur, erschienen in: Punch, 28. September 1878 (gemeinfrei)

     


     Video: Das „verkaufte Vaterland“. Preußens antipolnische Siedlungspolitik 1886 – 1914

    Dr. Daniel Stienen schildert in seinem Vortrag zunächst die verschiedenen Etappen der polnischen Teilungen von 1772 bis 1815 und geht auf den seither wiederholt gescheiterten Kampf der Polen um den Wiedergewinn ihrer Souveränität ein. Anschließend erörtert er auf der Basis einer umfangreichen Analyse preußischer und polnischer Quellen die Ziele, administrativen Mittel und Ergebnisse der repressiven Politik Preußens gegenüber der großen polnischen Minderheit in den Provinzen Westpreußen und Posen seit der Gründung des Deutschen Reiches von 1871.

    Stienen Vortrag Bismarck Stiftung 09 06 2022 Seite 01