Gespräch mit dem Landrat Christoph von Tiedemann, Berlin
18. Januar 1875
Bismarck klagt über die Auswüchse des „bureaukratischen Dekretieren[s]“ durch die öffentliche Verwaltung. Ein Kreisschulinspektor in Hinterpommern habe die Toilette einer Dorfschule mit hohem Kostenaufwand zementieren und mit Ventilatoren einrichten lassen. Doch nun verrichteten die Kinder der Bauern und Tagelöhner „ihre Bedürfnisse überall, nur nicht dort“. Denn sie scheuten sich, das Gebäude zu verunreinigen.
Während der Sitzung des Abgeordnetenhauses überbringt mir ein Kanzleidiener des Auswärtigen Amtes ein Billett, in dem der Reichskanzler Fürst Bismarck mich um eine vertrauliche Unterredung heute abend neun Uhr in seiner Wohnung ersuchen läßt. Sehr merkwürdig! Ich zerbreche mir im Laufe des Tages vergeblich den Kopf über die Ursache dieser überraschenden Aufforderung.
Um dreiviertel auf neun finde ich mich im Auswärtigen Amte ein. In einem großen, durch eine einzige Lampe matt erleuchteten Raum, der als Eßzimmer benutzt zu werden scheint, muß ich eine Viertelstunde warten. Es scheint sehr pünktlich in diesem Hause herzugehen. Vor neun dürfe er nicht melden, sagt der Diener, denn erst zu neun Uhr sei ich ja eingeladen. Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich die interessante chinesische Tapete an den Wänden studiere.
Mit dem Glockenschlage neun werde ich in das Arbeitszimmer des Fürsten geführt. Er erhebt sich von seinem Schreibtisch, reicht mir die Hand zur Begrüßung und bittet mich, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Währenddem nähert sich aus dem Hintergründe Sultan, der Reichshund, beschnuppert mich mißtrauisch, kehrt jedoch, anscheinend befriedigt, sehr bald wieder an den Ofen zurück.
Der Fürst fragt mich, ob ich rauche, was ich natürlich freudig bejahe. Er präsentiert mir eine Zigarre und zündet sich selbst eine Pfeife an.
Die Unterredung, welche sich nun entspinnt, will ich versuchen, wörtlich niederzuschreiben.
Er: „Es liegen mir verschiedene im Ministerium des Innern ausgearbeitete Gesetzentwürfe vor, über welche ich Seiner Majestät in den nächsten Tagen Vortrag zu halten habe. Sie betreffen die Organisation der Verwaltung in den westlichen Provinzen: Provinzialordnung, Kreisordnung, Landgemeindeordnung. Sehen Sie diese Haufen, – und hier die Motive dazu. Es ist keine Kleinigkeit, das alles durchzulesen. Ich bin sehr angegriffen, habe in drei Nächten nicht geschlafen und in drei Tagen so gut wie nichts gegessen. Es ist aber doch notwendig für mich, die Vorlagen eingehend zu prüfen und Stellung zur Sache zu nehmen. Der Minister des Innern scheint die Einbringung der Gesetzentwürfe lebhaft zu wünschen. Von anderer, und wie ich glauben muß, kompetenter und sachverständiger Seite sind aber schwerwiegende Bedenken dagegen erhoben worden. Man hat mir gesagt, die Durchführung der neuen Reorganisationsgesetze leiste der Agitation der Ultramontanen in der Rheinprovinz wesentlichen Vorschub, sie überliefere die Handhabung der Polizei in ihren verschiedenen Instanzen den Ultramontanen. Sie begreifen, daß ich mich um die Details der Verwaltungsfragen nicht kümmern kann. Auf der anderen Seite aber kann und werde ich niemals meine Zustimmung zu einer Aenderung der Verwaltungsorganisation geben, von der ich befürchten muß, daß sie meine innere Politik erschwert.
Für mich kommt es augenblicklich in erster Linie darauf an, den Ultramontanismus zu bekämpfen; alles andere ist Nebensache. Gewinne ich wirklich die Ueberzeugung, daß die neuen Gesetze, wenn auch nur indirekt, zur Förderung der ultramontanen Bewegung dienen, so setze ich ihnen mein Veto entgegen. Ich verkenne dabei nicht, daß es etwas sehr Mißliches hat, die durchgreifende Umgestaltung der Verwaltung, wie sie jetzt beabsichtigt wird, auf einzelne Provinzen zu beschränken und dadurch eine Ungleichheit in der Behördenorganisation des Staates herbeizuführen. Für mich liegt die Frage also so: soll ich dem Kaiser die Bedenken, deren ich vorher erwähnte, ‚einimpfen‘ oder soll ich Seine Majestät zu bestimmen suchen, die Allerhöchste Ermächtigung zur Einbringung der Vorlagen – mit einigen Modifikationen vielleicht – zu erteilen. Ich kenne nun die Verhältnisse der Rheinprovinz aus eigener Anschauung heute nicht mehr, muß mich daher auf andere verlassen und die zuverlässigsten Erkundigungen einzuziehen suchen. Ich habe mir eine Liste der rheinischen Abgeordneten geben lassen – Sie stehen mir persönlich am nächsten –, ich möchte daher von Ihnen ein freimütiges Urteil darüber hören, ob Sie die Einführung der neuen Gesetze politisch für unbedenklich halten, oder ob es nach Ihrer Ansicht notwendig ist, noch hier oder da gewisse Sicherheitsventile anzubringen, damit kein Unglück geschieht. Ich weiß freilich nicht, ob Sie die Vorlagen kennen. Sind Sie in der Lage, sofort eine Ansicht auszusprechen, so bitte ich darum. Wünschen Sie sich näher zu informieren, oder die Sache noch einmal zu überlegen, so beehren Sie mich morgen abend wieder mit Ihrem Besuche.“
Ich: „Ich bin bereit, sofort zu antworten, und ich bitte Euer Durchlaucht, dies nicht für Selbstüberhebung zu halten. Ich gehöre zu denjenigen Landräten, welche ein schriftliches Gutachten über die im Ministerium des Innern ausgearbeiteten Entwürfe erstattet haben. Ich kenne daher diese Entwürfe, und ich glaube auch die dagegen geltend gemachten Bedenken zu kennen. Ich setze dabei voraus, daß sie von Heinrich von Sybel und von den königlichen Regierungen zu Düsseldorf und Trier herrühren.“
Er: „Das ist vollkommen richtig.“
Ich: „Dann gestatten mir Euer Durchlaucht noch eine Bemerkung vorauszuschicken, bevor ich auf die eigentliche Frage eingehe. Ich verwalte einen Kreis, dessen Bevölkerung fast zu zwei Dritteln evangelisch ist. In meinem Kreise hat daher die ultramontane Agitation nur eine sekundäre Bedeutung. Handelte es sich bloß um meinen Kreis oder um die rechtsrheinischen Kreise des bergischen Landes, so würde ich keinen Anstand nehmen, zu erklären, daß die Einführung der Kreisordnung und Landgemeindeordnung selbst nach dem Entwürfe des Ministeriums des Innern keinerlei Bedenken unterliege. Anders aber liegt die Sache auf dem linken Rheinufer und in den mir benachbarten Kreisen Düsseldorf und Essen, deren Verhältnisse ich ebenfalls genau zu kennen glaube. Für diese sind allerdings einige Sicherheitsventile notwendig.“
Er: „Und welche würden Sie für erforderlich halten?“
Ich: „Ich lege das Hauptgewicht auf zwei Punkte. Der erste betrifft die Amtsvorsteher oder Landbürgermeister. Die Staatsregierung muß nach meiner Ueberzeugung verlangen, daß die Organe, welche sie vorzugsweise zur Ausführung ihres Willens bedarf, also die Polizeibehörden, zuverlässig und ihr treu ergeben sind. Sie darf deren Auswahl nicht dem Zufall überlassen und darf daher nicht zugeben, daß sie von Gemeindevertretungen gewählt werden, welche vielleicht unter dem Einflüsse einiger fanatischer Kapläne stehen. Die Wahl der Landbürgermeister muß also beseitigt werden.“
Er: „Das ist auch meine Ansicht. Ich werde die Wahl nicht zugeben; und der zweite Punkt?“
Ich: „Der zweite ist ebenso wichtig, vielleicht noch wichtiger. Die Amtsvorsteher oder Landbürgermeister sind eben nur Lokalbehörden, in polizeilicher Beziehung Organe des Landrats, dessen Weisungen sie zu befolgen haben. Wie der Landrat ist, so werden in den meisten Fällen die Landbürgermeister sein. Kann die königliche Staatsregierung sich nicht entschließen, von ihren Disziplinarbefugnissen gegenüber unzuverlässigen Landräten einen rücksichtsloseren Gebrauch wie bisher zu machen, so sehe ich in der Einführung der Kreisordnung, welche die Kompetenz der Landräte wesentlich vermehrt und den Schwerpunkt der Verwaltung von den königlichen Regierungen auf die Landräte und die Kreisausschüsse überträgt, allerdings eine wirkliche Gefahr.“
Er (ergreift einen Bleistift): „Bitte einen Augenblick. Das möchte ich mir notieren.“
Ich: „Euer Durchlaucht werden begreiflich finden, daß es für mich etwas Peinliches hat, über Kollegen, mit denen ich teilweise persönlich befreundet bin, ein absprechendes Urteil zu fällen. Wenn aber Euer Durchlaucht eine freimütige Äußerung von mir verlangen, so halte ich es für meine Pflicht, zu erklären, daß eine Reihe rheinischer Landräte zur Disposition gestellt oder versetzt werden müssen, wenn die Kreisordnung ohne Nachteil eingeführt werden soll. Ich gehe sogar soweit, zu sagen, daß es wünschenswert wäre, augenblicklich nur evangelische Landräte in der Rheinprovinz anzustellen.“
Er: „Sie sind also der Meinung, daß die Kreis- und Landgemeindeordnung eingeführt werden kann, wenn die Staatsregierung sich die Ernennung der Amtsvorsteher vorbehält und wenn dafür Sorge getragen wird, daß nur zuverlässige Landräte an der Spitze der Kreise bleiben?“
Ich: „Ja.“
Er: „Und weitere Kautelen verlangen Sie nicht?“
Ich: „Nein.“
Er: „Wie denken Sie denn über die Kreisausschüsse?“
Ich: „Sind die Landräte zuverlässig, so hat es mit den Kreisausschüssen keine Gefahr. Die Landräte nehmen in denselben eine so dominierende Stellung ein, daß sie ihr Handwerk schlecht verstehen müssen, wenn sie nicht in zehn Fällen neunmal ihren Willen durchsetzen. Dadurch, daß sie die Geschäftsleitung in der Hand haben, daß sie sich in jeder Sache den Vortrag vorbehalten können, und besonders dadurch, daß ihnen die Befugnis eingeräumt wird, jeden Beschluß des Kreisausschusses, welcher den Gesetzen oder dem Staatswohl widerspricht, zu suspendieren und gegen denselben an das Verwaltungsgericht zu rekurrieren, können die Landräte bei gutem Willen und bei einigem Geschick jeden Uebergriff einer ultramontanen Majorität auf das politische Gebiet unwirksam machen.“
Er: „Und Sie fürchten nicht den Einfluß, den große Grundbesitzer oder Industrielle ausüben werden?“
Ich: „Wäre anzunehmen, daß der Adel sich, ähnlich wie in den östlichen Provinzen, der Kreisausschüsse bemächtigen würde, dann wäre die Sache vielleicht bedenklich.“
Er: „Aber hat der rheinische Adel noch Bedeutung?“
Ich: „Von wenigen Ausnahmen abgesehen – nein. In den Kreisausschüssen wird der kleine Grundbesitz immer das Uebergewicht haben.“
Er: „Aber der Einfluß des Kaplans auf den kleinen Grundbesitz? Wird er nicht bis ins Sitzungszimmer dringen?“
Ich: „Der Einfluß des Kaplans mag auf der Straße, in der Kirche und in der Familie unüberwindlich sein. Im Sitzungszimmer hebt jeder tüchtige Landrat den Kaplan aus dem Sattel.“
Er: „Der Präsident von Ende denkt nicht so wie Sie. Er fürchtet den Kreisausschuß, wenn er lediglich aus der Wahl des Kreistags hervorgeht.“
Ich: „Der Präsident von Ende besitzt gewiß einen klaren Blick für jede Regung des Ultramontanismus. Aber – verzeihen Euer Durchlaucht mir diese Bemerkung – in dieser Frage, glaube ich, sieht er zu viel. Es geht ihm wie Herrn von Sybel. Sie sehen überall Gespenster und suchen hinter jedem Ofen einen Mephisto.“
Er: „Graf Eulenburg will, daß der Kreisausschuß in Posen zur Hälfte ernannt werden soll. Herr von Ende scheint dasselbe für die Rheinprovinz zu wünschen.“
Ich: „Ich kenne die Verhältnisse in Posen nicht, habe daher auch kein Urteil darüber, inwieweit etwa die Nationalitätsfrage dort ein entscheidendes Gewicht hat. Soviel aber darf ich auf Grund meiner Kenntnis rheinischer Verhältnisse sagen, daß zur Hälfte ernannte Kreisausschüsse für die Rheinprovinz absolut unmöglich sind, wenn nicht auch alle bisher reichsfreundlichen Elemente in Opposition gebracht werden sollen. Lieber gar keine Kreisausschüsse, wie solche! Es dürfen meines Erachtens in der Rheinprovinz keine Anordnungen getroffen werden, welche den Eindruck schlechter Behandlung machen. Der Rheinländer ist etwas arrogant. Er hält sich – meines Erachtens mit Unrecht, aber er tut es nun einmal – für politisch reifer und entwickelter wie die Brandenburger oder Sachsen. Es würde ihn tief verstimmen, wollte man ihn geringer taxieren wie diese. Mit Posen aber über einen Kamm geschoren zu werden, würde ihn vollständig in Harnisch bringen.“
Das Gespräch wendet sich nun den Verwaltungsgerichten zu. Der Fürst ist über ihre Zusammensetzung nicht ganz orientiert. Er ist der irrigen Meinung, daß für jeden Kreis neben dem Kreisausschuß besondere Verwaltungsgerichte zu bilden seien, resp. schon in den östlichen Provinzen gebildet werden sollten. Da er trotz meines Widerspruches auf seiner Meinung beharrt, so kann eine weitere Erörterung zu keinem Resultate führen. Der Fürst fragt mich dann noch, ob ich denn wirklich glaube, daß eine gründliche Umgestaltung der Verwaltung, wie sie durch die neuen Vorlagen bezweckt werde, notwendig und wünschenswert sei und ob sich aus der jetzigen Organisation Mißstände ergeben hätten.
Ich erwidere, ich sei ihm zu Danke verpflichtet, daß er mir Gelegenheit gebe, auf diese Fragen einzugehen und schildere ihm dann durch eine Reihe von Beispielen, mit welcher rücksichtslosen Einseitigkeit die königlichen Regierungen, namentlich auf dem Gebiete des Schulwesens, zu verfahren beliebten. Ich betone, indem ich Zahlen anführe, zu welcher Höhe die Kommunallasten in meinem Kreise angewachsen seien, daß man den Gemeinden unmöglich weitere Opfer für wesentlich staatliche Zwecke auferlegen könne, wenn man ihnen nicht eine wesentlich erweiterte Mitwirkung in der Verfügung über die von ihnen aufgebrachten Mittel einräumen wolle.
Der Fürst hört mit augenscheinlicher Aufmerksamkeit zu, macht sich verschiedene Notizen und sagt dann: „Es ist mir sehr interessant, von Ihnen dasselbe zu hören, was man mir in Pommern und Brandenburg schon mehrfach gesagt hat. Ich besitze ein Verständnis für solche Sachen, was ich aber nicht von allen meinen Kollegen behaupten kann. Friedenthal und ich sind die einzigen Minister, weil wir auch Grundbesitzer sind, die auch einmal zu den ‚Regierten' gehört haben. Die übrigen haben immer nur regiert, seitdem sie Referendar geworden, am grünen Tisch reskribiert und dekretiert und haben nie an eigener Haut erfahren, wie einem zumute ist, wenn man eine Verfügung erhält, mit der man nichts anzufangen weiß, weil sie von jemand herrührt, der die Praxis nur vom Hörensagen kennt. Aber wohin ein solches bureaukratisches Dekretieren führt, davon kann ich Ihnen auch ein lustiges Beispiel erzählen. Da verfügt neulich im Schlawer Kreise ein Kreisschulinspektor, daß die Aborte neben einem Schulhause umgebaut werden sollen. Sie sollen mit Ventilationseinrichtungen versehen sein, sollen zementiert werden, der Eingang soll vom Schulzimmer nicht sichtbar sein. Die Schule liegt in einem kleinen Dorf, das nur von Bauern und Tagelöhnern bewohnt wird. Mit großem Kostenaufwand werden die neuen Anstalten hergestellt, und als sie fertig sind, da staunen die Jungens, und die Alten lachen. Aber sie scheuen sich, die blanken kleinen Gebäude zu verunreinigen und verrichten ihre Bedürfnisse überall, nur nicht dort.
Ein anderer Kreisschulinspektor, oder war es gar ein Schulrat, befiehlt, daß in einem gewissen Umkreis vom Schulhause alle Düngerhaufen beseitigt werden sollen. Nun frage ich Sie, was sollen die Bauern davon denken? Für sie ist ein kleiner Misthaufen ein kleines Kapital, und der Geruch ist ihnen immer als Wohlgeruch erschienen. Zu Hause riechen die Jungens den Dünger hinten und vorne, aber im Schulgebäude soll er ihnen schädlich sein. Solche Sachen könnten nicht vorkommen, wenn die dekretierenden Behörden mitten im praktischen Leben ständen.“
Die weitere Unterredung dreht sich um meine persönlichen Verhältnisse und die Verhältnisse meines Kreises. Der Fürst nimmt eine Karte und sucht Mettmann. Sächsische Abstammung der Bevölkerung, ihr konservativer Charakter im Gegensatz zu den linksrheinischen Franken. Geschlossenheit des Grundbesitzes, Familiennamen und Namen der Bauerngüter gleichlautend. – Zum Schluß wird eine Liste der rheinischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten durchgegangen und fünf von ihnen als solche bezeichnet, die eventuell noch zu hören seien. – Die Unterredung dauert von neun Uhr präzise bis zehn Uhr zehn Minuten.