Rede im Reichstag, Berlin

    5. Dezember 1876


    Vor dem Hintergrund eines drohenden russisch-österreichischen Krieges auf dem Balkan beschwört Bismarck das Dreikaiserbündnis von 1873. Zugleich rät er von einem aktiven Eingreifen in die „orientalische Frage“ ab, „so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur […] die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre.“

    Ich hatte zunächst meinen neben mir sitzenden Herrn Kollegen im Bundesrat gebeten, die Beantwortung der Interpellation in erster Linie zu übernehmen, weil ich nicht darauf vorbereitet war, daß der Herr Redner [Richter] den Hauptschwerpunkt der Interpellation schließlich nicht auf das wirtschaftliche, sondern auf das politische Gebiet legen würde. Soweit er sich auf das wirtschaftliche Gebiet eingelassen hat, bitte ich nachher um die Erlaubnis für den Herrn v. Philipsborn, meine Antwort zu ergänzen und sie auf diese Weise in zwei Teile zu zerlegen.

    Als ich die Interpellation zuerst zu Gesicht bekam und fand, daß sie dahin lautete: Was beabsichtigt der Reichskanzler in dieser Frage zu tun? – so kam mir der Gedanke, ob ich nicht eine in wirtschaftlichen Fragen sehr viel wichtigere Autorität, wie die des Herrn Interpellanten, um Rat fragen sollte, ob er nicht vielleicht ein Mittel wüßte, um so mehr, da er mich früher und heute auch wieder indirekt eines gewissen Dilettantismus auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Politik beschuldigt. Ich bitte um die Erlaubnis, ihm das auf dem Gebiete der eigentlichen Politik im vollsten Maße zurückzugeben, und werde ihm das nachher nachweisen. (Heiterkeit.) Aber hier fühle ich wirklich meine Unzulänglichkeit ihm gegenüber und hatte daher gehofft, daß seine Motivierung der Interpellation darüber, was ein Minister in dieser Lage wohl zu tun hat, einigen Anhalt und einige Auskunft geben würde. Ich hatte von ihm einen Rat erwartet, eine Andeu¬tung wenigstens, was seiner Meinung nach die Regierung tun könnte. Ich bin aber, nachdem ich seine Motivierung gehört habe, zweifelhaft geworden, ob er seinerseits überhaupt glaubt, daß sich irgend etwas tun ließe, ob nicht die Interpellation eben den Zweck hat, den der Herr Vorredner häufig verfolgt, eine kritische Lage zu benutzen, um die Regierung und meine Person in Verlegenheit in Bezug auf eine gewisse Frage zu versetzen. Ob das im Augenblick nützlich ist für die Gesamtheit, lasse ich dahingestellt sein; aber es wird ihm auch nicht gelingen, mich darüber in Verlegenheit zu setzen. Ich bin eigentlich nicht verpflichtet, auf wirtschaft¬lichem Gebiete mehr zu wissen, als jemand, der in Kreisen, die mir fernstehen, für eine so große wirtschaftliche Autorität gilt, wie der Herr Vorredner.

    Der Herr Vorredner berührte zuerst die Mittel, die allein in solchen Ver¬hältnissen wirksam sein können, wies sie aber weit von der Hand; er befürwortete, man solle ihn nicht wie früher darauf verweisen, daß die russische Regierung selbst ihre Geschäfte zu verstehen glaubte, und kam nachher darauf zurück, daß alle diejenigen, die sich geläuterter Ansichten erfreuten, schließlich zu einer vollständigen Enthaltung und Ablehnung gegen russische Papiere kommen müßten. Kurz, er gab zu erkennen, daß er seine Ansicht für die geläuterte hielt. Nun, die kaiserlich russische Re¬gierung hält wahrscheinlich die ihrige für die geläuterte; sonst würde sie nicht seit Jahren zu meinem Bedauern sie verfolgen und würde nicht jetzt sie noch verschärfen. Ich bin mit dem Herrn Vorredner der Überzeugung, daß die russische Regierung in ihrer Zollpolitik auf einem Irrwege sich befindet, von dem sie früher oder später wird zurückkehren müssen, und ich sehe mit Bedauern, daß eine uns in dem Maße befreundete Regierung eine wirtschaftliche Politik betreibt, bei der sie nicht innerlich kräftiger und wohlhabender wird. Ich wünschte, ich könnte sie auf andere Wege bringen, ich wünschte, ich könnte sie überzeugen und überreden; so lange sie das aber nicht selbst besorgt, so lange sie sich nicht selbst überzeugt, wird ein fremder Minister, der den Russen als Interessent für andere verdächtig ist, darüber eine noch geringere Autorität sein, als die vielen beteiligten Russen und andere, die ihnen das schon predigen seit langer Zeit ohne Erfolg. Bisher glauben sie nicht daran und folgen ihrer eigenen Überzeugung; wir können sie ebensowenig daran hindern, als wir die nordamerikanischen Freistaaten gehindert haben; bei deren Zollerhöhungen ist von keiner Seite der Regierung die Zumutung gemacht worden, irgend etwas zu tun, was nicht in ihrer Macht liegt. Aber ich glaube, die ganz außerordentlichen Erhöhungen der Einfuhrzölle in den nordamerikanischen Freistaaten haben seinerzeit unsern Handel viel mehr geschädigt, als jetzt die russischen Erhöhungen, weil in den amerikanischen Freistaaten früher ein viel richtigeres System stattfand. In unseren russischen Beziehungen ist die Schädigung schon eine alte, lange bestandene, die ebensosehr den russischen Interessenten trifft, wie den deutschen. Aber ich möchte sagen, es konnte sehr viel schlimmer, als es schon war, dort kaum werden. Als in Amerika ein ganz außerordentlicher Rückschlag kam, hat sehr verständigerweise niemand der deutschen Regierung etwa zugemutet, etwas zu tun.

    Der Herr Vorredner sagte also, er berührte die einzigen beiden Mittel, die in solchen Verhältnissen anwendbar sind, einmal auf politischem, zweitens auf wirtschaftlichem Gebiete, und ich bedaure, daß er beide Gebiete vollständig vermischt hat. Ich werde nachher darauf kommen, warum das Politische von dem Wirtschaftlichen ganz getrennt zu halten ist und ihm ganz fern liegt. Ich will nur erst auf dem wirtschaftlichen Gebiet konstatieren, daß der Herr Vorredner selbst die Hilfe, die da liegen könnte, weit von sich wies, das heißt Gegenzölle, Retorsionen – daß beispielsweise, wenn die russischen Zölle unsere Haupteinfuhrartikel beschweren und hindern, wir die russischen Haupteinfuhrartikel in Deutschland ebenfalls zu treffen suchen. Das, was bei uns getroffen wird, sind in erster Linie, und zwar in stärksten Posten, Kolonialwaren. Nach den Durchschnittsberechnungen, die vom Jahre 1874 mir vorliegen, die aber auf den amtlichen statistischen Nachrichten beruhen, haben wir für Kolonialwaren jährlich für etwa 54 Millionen nach Rußland eingeführt. Wenn die nun einer so viel höheren Besteuerung unterliegen sollen, so wird der russische Konsument sie entweder tragen oder die Kolonialwaren entbehren müssen. Dadurch wird unser Zwischenhandel, der Transithandel, vielleicht in gewissem Maße betroffen, indem in Zukunft vielleicht weniger Leute in Rußland Kaffee trinken; aber unsere Produzenten schädigt das nicht wesentlich. Sie werden vielleicht in zwei nächstgroßen Positionen getroffen: das sind Seiden-, Weber- und Wirkwaren mit 48 Millionen; Maschinenwaren, Apparate mit 30 Millionen; Kurzwaren, Schmucksachen mit 25 Millionen; roh bearbeitete Metalle und Metallwaren sind zu meiner Überraschung bei der Einfuhr nach Rußland in irgendwelchem erheblichen Maße nicht vorhanden, sondern umgekehrt, es handelt sich da um 15, resp. 7 Millionen, und bei Brennstoffen um weniger als ich dachte, um nicht ganz 6 Millionen Mark. In der letzten Position wird das wahrscheinlich zu¬nächst den polnischen Kohlenbezirken zugute kommen, wenn unsere Kohlen einen höheren Einfuhrzoll bezahlen müssen.

    Woran wir uns nun russischerseits halten könnten, sind die Positionen von zusammen ungefähr 300 Millionen Mark, die in Getreide, in Holz und in Spinnstoffen usw. bestehen. Es ist dabei Getreide mit 165 Millionen Mark in Ansatz, Holz mit 110 Millionen, Spinnstoffe mit 86 Millionen; Vieh, wahrscheinlich wegen der Grenzsperre in Bezug auf Rinderpest, mit weni¬ger als man glauben sollte, mit nur 31 Millionen Mark; dann Haare, Häute und dergleichen mit 37 Millionen Mark.

    Wenn wir uns auf Repressalien einlassen sollten – und der Herr Vorredner hat ja die Regierung schon gänzlich entwaffnet, indem er sie in Bezug auf alle Andeutungen, die sie in dieser Beziehung an Rußland machen könnte, schon kreditlos gestellt und gesagt hat: dergleichen wird bei uns nicht durchzubringen sein; er hat vielleicht recht, aber durch solche Ausposaunungen wird eine Regierung, der man eine Leistung zumutet, zugleich in manchen Negoziationsmitteln vollständig gelähmt. (Sehr richtig!)

    Ich weiß nicht, ob der Herr Vorredner vollständig recht damit hat, ob nicht unter Umständen ein Retorsionszoll die Billigung des Bundesrats und des Reichstages finden könnte; wenn das aber von Hause aus absolut unmöglich ist, dann, bitte, lassen Sie mich auch mit solchen Zumutungen zufrieden; denn ich wüßte nicht, womit ich die russische Zollpolitik überreden, womit ich auch nur die Andeutung eines Schadens oder Verdrusses sollte machen können, wenn es ganz unmöglich ist, unter Umständen auf 10 Millionen für Holz und 165 Millionen für Getreide den Gegenzoll zu legen, der etwa den Kostenunterschied aufwiegt, welchen der russische Handel tragen müßte mit seinem Absatz von dem direkten Weg über Danzig und Schlesien auf Libau und Riga und diese nicht immer offenen Häfen. Ich gebe zu, daß dabei unser Zwischenhandel Verluste leiden würde; ich würde aber solchen Zustand eben nur als einen vorübergehenden, gewissermaßen als einen Kampfzoll betrachten, der zu einem be-stimmten Zweck und zu einem bestimmten Nutzen gelegentlich bewilligt wird.

    Ich bin weit entfernt, Ihnen in dieser Beziehung einen Vorschlag zu machen, namentlich wenn derjenige, von dem man Vorschläge erwartet, dem Inlande von Hause aus als ein Dilettant bezeichnet wird, und dem Auslande gegenüber als einer, der sich mit Utopien beschäftigt, die er nie durchsetzen kann. Also, was soll ich mich weiter darum bemühen! (Heiterkeit.)

    Ich schiebe die Verantwortung für das Mißlingen der Verhandlungen, die in der Tat schweben und von denen mein Herr Nachbar hernach sprechen wird – ich schiebe die Verantwortung für das Mißlingen derselben, was ich durch diese Äußerungen des Herrn Vorredners für sehr viel wahrschein¬licher geworden halte, lediglich dem Herrn Vorredner zu und überlasse ihm, sich da mit den Grenzkreisen und den beteiligten Kreisen auseinander¬zusetzen. Ich kann nur bestätigen, daß nach meiner Erfahrung durch seine Interpellation und durch die Art, wie er die Sache hier motiviert hat, die Aussicht, die wir auf schwebende Unterhandlungen haben, wesentlich geschädigt wird.

    Wir kommen dann auf die zweite Frage, die politische.

    Er sagte also, in Bezug auf die wirtschaftlichen Repressalien sei gar nichts zu tun, Krieg mit Rußland wolle er nicht führen. Darauf, dachte ich, würde er nun die Mittel nennen, die ihm bekannt sind; aber außer diesen beiden nicht gewollten Mitteln habe ich gar nichts anderes als allgemeine Redensarten gehört: verständige Leute von geläuterter Ansicht sollten endlich davon zurückkommen – und eine Empfehlung, russische Papiere nicht mehr zu kaufen. Letzteres sind Privatrepressalien, bei denen die Regierung nicht mithelfen kann. Ich glaube nicht, daß wir in unseren Reichsfonds russische Papiere haben, ich bezweifle es. (Zustimmung links.)

    Das ist also ein Rat, den der Herr Vorredner Privatleuten gibt, um welchen er die Regierung nicht zu interpellieren und sie nicht zu einer Antwort und zu einer Aussage zu nötigen brauchte, die ganz bestimmt die Verhandlungen schädigt, schon deshalb, weil die Übertreibungen dessen, was erwartet und verlangt wird, immer den Auswärtigen Minister bis zu einem gewissen Grade nötigen, sich zum Advokaten der Regierung zu machen, der gegenüber die Äußerungen, die wir hier tun, vielleicht ebenso nachteilig sind als die Äußerungen, die der Herr Interpellant getan hat.

    Er hat nachher die politische Seite der Frage in den Vordergrund gestellt, nachdem er zuerst die Möglichkeit von der Hand gewiesen hat, daß diese Zollfrage uns bewegen könnte, bei einem möglicherweise – vielleicht auch nicht – ausbrechenden russisch-türkischen Kriege uns auf die Seite der Türken zu stellen und Rußland anzugreifen. Und ich bin darüber erfreut; aber ich glaube, er hat sich hier den Zusammenhang, die Abstufungen zwischen Freundschaft, Kälte, Verstimmung, Krieg, Zwistigkeiten in Gegenwart und Zukunft doch nicht ganz klar gemacht. Wenn man zur unrechten Zeit jemand, der sich in einer schwierigen Situation befindet, einen Stock zwischen die Räder schiebt, so ist es möglich, daß der Stock für den Augenblick wirkt; aber der Kutscher des Wagens merkt sich dann den, der den Stock dazwischengeschoben hat, und es ist immerhin möglich, daß das, was dem Herrn Vorredner jetzt ganz unverfänglich scheint, der erste Anfang und der Keim wird zu einer Verstimmung, die allmählich immer weiter greift. Mir ist als einem Pfleger des Friedens die Interpellation, die der Herr Redner gestellt hat, in meinem Werke unzweifelhaft hinderlich und im höchsten Maße unbequem; ich glaube auch nicht, daß er sie gestellt hat, um mir förderlich zu sein und meine Aufgabe bequem zu machen. Wenn er aber in einem Augenblicke, wo meine Aufgabe und meine Arbeit notorisch auf Erhaltung des Friedens gerichtet ist, sie mir unbequem macht, mir vielleicht den Keim zu einer künftigen Verstimmung mit befreundeten Mächten suppeditiert, so dient er den Leuten schlecht, denen er mit seiner Interpellation angeblich nützen will, indem wir, wenn wir den russischen Grenzzoll vielleicht durch einen Streit erwidern – was sehr unwahrscheinlich ist – Stimmungen vorbereiten, die demnächst eine von den Ursachen werden, nicht jetzt, aber später in die freundschaftlichen Beziehungen zwischen uns und Rußland eine Störung zu bringen. Er will den Krieg nicht; nun, ich glaube, auch die Herren, in deren Interesse er sprach oder zu sprechen vorgab, werden darüber einig sein, daß sie lieber noch eine gesperrte Zollgrenze als eine für die feindlichen Truppen geöffnete haben wollen, daß sie lieber ein abgesperrtes Land, als der Kriegsschauplatz sein wollen. Es ist sehr wohlfeil, zu sagen, daß man den Krieg nicht will; es fragt sich nur: inwieweit schädigt der Herr Vorredner durch seine Interpellation die Bemühungen, den Frieden auf lange Dauer zu wahren?

    Ich habe schon aus einer früheren Diskussion, der ich hier nicht beigewohnt habe, mit einer gewissen Verwunderung entnommen, daß von einigen Seiten im Hause unsere jetzige Politik wegen ihres erkennbaren Wohlwollens für Rußland für zu friedfertig gehalten wurde. Es wurden uns andere Zwecke als Ideale aufgestellt und uns vorgehalten, daß wir die große Macht, die in die Hände des Deutschen Kaisers gelegt sei, nicht zu Zwecken benutzen, die in ihrer letzten Perspektive am Ende doch eine kriegerische Entwickelung erblicken lassen, und uns eine Haltung zugemutet, die, wenn wir nicht ganz in die Luft und in den Wind gesprochen haben wollten, doch dazu führen kann, daß Krieg ausbricht. Man hat eben in allen diesen Fragen nicht immer das Sachliche, sondern von mancher Seite das aufgesucht, was die Regierung augenblicklich schädigen und ihr Verlegenheit bereiten konnte. Vor anderthalb Jahren war der unbegründete Vorwurf, wir suchten Krieg und Händel; und jetzt, nachdem eine solche Unwahrheit in der ganzen Welt keinen Glauben mehr finden würde, beschuldigt man uns des Gegenteils: wir wären zu friedfertig und machten von der Macht, die wir hätten, nicht den richtigen Gebrauch. Einstweilen ist der Moment, davon Gebrauch zu machen, nicht gekommen, und so Gott will, wird er für uns überhaupt nicht kommen.

    Der Herr Vorredner befindet sich, wie so mancher andere, in dem Irrtum, daß er glaubt, Rußland verlange von uns im Augenblick große Gefälligkeiten und Dienste; das ist durchaus nicht der Fall. Er hat angedeutet, als wenn Rußland mit Eroberungen umginge und sein Ländergebiet erweitern wollte, und er hat auf die Gefahr für unseren Handel und Verkehr hingewiesen, die daraus entstehen würde, wenn die russische Zollsperre mit der Erhöhung des Goldzolles nun noch auf andere, bisher nicht russische Länder Anwendung finden sollte. Diese Aussicht liegt gar nicht vor, daß Rußland irgendwelche Eroberungen beabsichtigt. Wenn mir der Herr Vorredner dafür den Beweis liefern könnte, so würde die ganze Politik des übrigen Europa vielleicht eine andere Gestalt annehmen, und er würde, wenn er das wirklich weiß, vielleicht mancher anderen Regierung einen großen Dienst erweisen, damit dergleichen Pläne rechtzeitig verhindert würden. Bis jetzt aber liegt nichts weiter vor, als die feierliche Versicherung des Kaisers Alexander, die auf Veranstalten der russischen Regierung bekanntgemacht worden ist, daß er seinerseits auf Eroberung und Erwerb verzichten wolle. Und ich weiß nicht, wer ein Recht hat, den Versicherungen dieses Monarchen – namentlich in unserem Lande, dem er immer ein wohlwollender Freund und Nachbar gewesen ist, und von dem niemand behaupten kann, daß er uns je in irgendeiner Richtung seine Zusage nicht auf das Vollständigste gehalten hat – entgegenzutreten und dieser Sachlage gegenüber nun plötzlich dem Publikum den Verdacht unterzuschieben, als handle es sich für Rußland um Eroberung neuer Provinzen, bei der wir eine gewisse Konnivenz leisten.

    Rußland verlangt von uns gar nichts, wofür wir unsererseits irgendeinen Preis fordern könnten, und wenn es etwas Derartiges verlangte, so ist die Forderung von Preisen in der Politik immer etwas Mißliches. Man muß sich bei dem, was man in der Politik will, immer nur nach dem eigenen Landesinteresse richten, nicht aber nach Preisen, die ein Fremder bietet. Wir werden die Politik, die wir machen, aus eigenem Interesse machen, und eine andere zu machen, werden wir uns durch keine Anerbietung bestimmen lassen. Dergleichen liegt aber auch nicht vor. Rußland verlangt von uns nichts, als vorläufig und in erster Linie auf einer friedlichen Konferenz unsere Mitwirkung zu einem Zwecke, der auch der unserige ist, und der namentlich von Seiner Majestät dem Kaiser persönlich und, wie ich glaube, mit Zustimmung der ganzen Nation hochgehalten wird: zu einer besseren Stellung der Christen zu gelangen, welche die europäische Türkei bewohnen, und zur Herbeiführung von Zuständen, bei denen wenigstens solche Vorgänge, wie die Metzeleien der Tscherkessen in Bulgarien, nicht mehr zu den weiteren Wahrscheinlichkeiten gehören; kurz die Sicherstellung der christlichen Untertanen der Pforte gegen eine gelegentliche Behandlung, die sich mit dem heutigen öffentlichen Rechtsbewußtsein von Europa nicht verträgt, und über deren Abstellung ganz Europa einig ist; – es hat nur die Form nicht finden können, diese Einigkeit wirksam zu machen. Wir sind aber mit Rußland in Bezug auf den Zweck, der auf der Konferenz zu erstreben ist, zunächst einig; und unsere Unterstützung dafür anderweit verwerten zu können, würde heißen, daß wir in fremden Diensten und fremden Interessen etwas täten, was wir im eigenen christlichen Interesse, aus Sympathie für die Glaubensgenossen in jener Gegend tun, und, wenn Sie wollen, aus einem zivilisatorischen Kulturinteresse; – Sie können es also auch als einen Teil des Kulturkampfes mit einbegreifen, wenn Sie wollen. (Heiterkeit.) Sollten wir nun dafür, daß wir in dieser Frage im Kongreß dieselben Zwecke der Sicherstellung der christlichen Bewohner verfolgen, wie Rußland – sollten wir dafür etwa von Rußland eine Zollkonzession verlangen? Das wird der Herr Vorredner selbst nicht wünschen.

    Nun kann er mir sagen: Bei der augenblicklichen Sachlage ist die Möglichkeit sehr nahe gerückt, daß trotz der prinzipiellen Übereinstimmung der Beteiligten diese Konferenz resultatlos verläuft, und es ist nach den Erklärungen der kaiserlich russischen Regierung für den Fall die Wahrscheinlichkeit angezeigt, daß Rußland auf eigene Hand vorgehen werde, um mit den Waffen der Pforte abzukämpfen, was sie friedlich nicht bewilligen würde. Auch für diesen Fall verlangt Rußland ja von uns gar keine Unterstützung, es verlangt nur unsere Neutralität; wiederum also etwas, was vollständig in unserem Interesse liegt, und was kein Mensch beabsichtigt, anders zu leisten. Sollen wir Rußland ein Veto einlegen, wenn es einen Zweck zur Ausführung bringen will, den wir selbst als den unserigen erkennen, den wir mit Rußland zusammen bisher gefördert haben, und in Bezug auf welchen wir keinen Beweis bisher haben, daß Rußland die Linien, die der Zweck in sich selbst seiner Aktion zieht, überschreiten will; – wie gesagt, sollten wir da etwa nicht neutral bleiben? Wir können nicht in dem Augenblick, wo Rußland für allgemeine Zwecke seine Kräfte in Bewegung setzt, uns drohend ihm gegenüberstellen; das wäre eine Tor¬heit, die der Herr Vorredner uns ja selbst nicht hat zumuten wollen.

    Es geht also daraus logisch ganz klar hervor – eine Sache, über die sich viele in der Welt täuschen –, daß Rußland an uns gar keine Ansprüche macht, für die wir irgend auf Reziprozität rechnen können; und wenn wir die Reziprozität etwa suchen wollten in Zollkonzessionen, darin, daß wir das politische Gebiet und das wirtschaftliche vermengen wollten – ja, meine Herren, zu welchen Ungeheuerlichkeiten kommen wir da? Ich will gar nicht davon reden, daß mich das etwas an die Vorfälle erinnern würde, die ich von den Inhabern gewisser Geschäfte auf dem Mühlendamm ge¬hört, daß sie Händel suchen mit denjenigen, die von ihnen nicht kaufen und auf der Straße vorübergehen (große Heiterkeit); – daß man uns auf diese Weise veranlassen möchte, Händel mit Rußland zu suchen, weil es nicht von uns kauft, sondern sich durch hohe Zölle dagegen absperrt, ist ja ganz unmöglich; – ich will Ihnen näherliegende Beispiele mit benannten Zahlen anführen.

    Nehmen Sie an, daß in dem Moment, wo wir kriegerisch beschäftigt wären, oder wo uns kriegerische Verwicklungen drohten, Rußland uns gesagt hätte: Ja, ich will euch wohlwollend behandeln und will mit euch gehen, wenn ihr mir die Unbequemlichkeit abnehmt, daß meine Untertanen hier das Rindvieh nicht ausführen können wegen der Rinderpest, während ihr ganz unbegründete Furcht vor der Rinderpest habt an die sie auch nicht in dem Maße denken, wie wir es wohl wünschten (Heiterkeit) – wäre das nicht wohl eine Politik gewesen, die man als unwürdig und vergeltungsbedürftig allgemein verurteilt haben würde? Nehmen Sie an, daß in dem Augenblick, wo wir nach Frankreich zu gehen genötigt waren, Österreich uns gesagt hätte: Wir werden stillsitzen und wohlwollende Neutralität beobachten, wenn ihr alle ungarischen Weine zollfrei einlaßt, außerdem noch die entsprechenden Zollkonzessionen den Zuckerfabriken, Spinnereien und dergleichen macht – ich weiß nicht, was in dem Augenblick die Antwort gewesen wäre. Die meinige wäre gewesen, falls wir in dem Augenblick Österreichs Neutralität notwendig brauchten, ihm die Konzessionen zu geben; dazu bin ich Geschäftsmann genug in solchen Fällen. (Große Heiterkeit.)

    Aber wie wäre es geworden, nachdem wir wieder zurückgekommen? – Keine Regierung hat dergleichen getan, und wenn ich eine anführe, so bin ich weit entfernt zu glauben, daß irgendeine einer solchen Handlung fähig wäre; ich führe Ihnen nur benannte Zahlen an, um Ihnen den Unsinn einer solchen Prätension zu beweisen: dann wäre es entweder so gekommen, daß wir sofort in bedrohlicher Weise uns unsere Zollunabhängigkeit wieder ausgebeten haben würden oder einen Moment, wie den gegenwärtigen, abgewartet haben würden, um der österreichischen Regierung zu sagen: nun liegt die Sache wieder anders, nun bitten wir nicht nur wieder um Rückgabe unserer Zollkonzessionen, sondern außerdem noch um entsprechende Konzessionen.

    Die politischen Verhältnisse sind viel fluktuierender als die großen Verkehrsverhältnisse, und wenn Rußland heute wirklich in der kritischen Lage wäre, daß es uns notwendig brauchte, und wir wollten uns gewissermaßen vermieten für den Preis einer Zollkonzession – wer kann uns dafür bürgen, daß wir nicht in drei Jahren in der Lage wären, Rußlands freund¬liche Nachbarschaft zu brauchen, und daß Rußland dann sagte: ja nun, was kannst du in Zollsachen geben? (Heiterkeit.)

    Das sind doch Verhältnisse, die man nicht herbeiwünschen darf. Die politischen Verhältnisse balanzieren sich in sich; die Bekämpfung der wirtschaftlichen kann man nur auf wirtschaftlichem Gebiete suchen. Wird das wirtschaftliche Gebiet uns als Kampfplatz verschlossen, so sind dies alles Worte, die nutzlos die sehr beschränkte Zeit der Herren hier vergeuden; und nicht bloß die der Herren, sondern auch die unserige. Es ist eben hier ein Wortgefecht, das wir schon oft durchgemacht haben, und was immer ohne Resultat geblieben ist. Die Tendenz dieser Interpellation hat vielleicht den Stachel gegen Rußland – ich erinnere mich ähnlicher Reden vor etwa vierzehn Jahren, damals, wie die polnische Insurrektion war, und wie von der Konvention sehr viel die Rede war, wo man auch das Bedürfnis hatte, uns mit Rußland zu brouillieren, uns für die Polen ins Gefecht zu führen, ich weiß nicht, aus welchen Gründen – die Herren haben vielleicht noch die Überzeugung, daß sie sehr richtig gehandelt haben; sie haben sie vielleicht auch nicht (Heiterkeit), aber es ist damals wie jetzt meinem Eindrücke nach – ich kann mich auch darin irren – die Tendenz gewesen, durch solche Interpellationen, Diskussionen usw. unsere guten Beziehungen zu Rußland zu verderben, und es ist ja möglich, einige Parteien bei uns sind antirussisch aus Gewohnheit, aus Erbschaft, aus Erinnerung, andere sind es aus innerem Interesse, weil die russische Regierung auf konfessionellem Gebiete nicht ihren Interessen nahesteht.

    Aber, meine Herren, bemühen Sie sich darin wie Sie wollen, ich gebe Ihnen die positive Versicherung, so lange wir auf diesem Flecke stehen, wird es Ihnen nie gelingen, unser gutes und solides Verhältnis zu Rußland irgendwie zu alterieren und in die erprobte hundertjährige Freundschaft, die zwischen beiden Regierungen besteht, einen Riß zu machen. Dazu gehören stärkere Leute wie Sie, dazu gehört die kaiserlich russische Regierung selbst, die allein wäre imstande, und die hat ebensowenig die Absicht. Ich spreche damit nicht bloß meine persönliche Überzeugung aus, sondern, wie ich bestimmt weiß, die Ansicht der verbündeten Regierungen und namentlich auch die Ansicht Seiner Majestät des Kaisers selbst. Wir sind sehr weit entfernt, oder vielmehr diejenigen Herren, die eine Trübung in unsere Beziehungen zu Rußland zu bringen vielleicht das Bedürfnis haben, sie sind ganz außerordentlich weit entfernt von dem Ziele, das sie sich vielleicht vorgesteckt haben; das Bündnis, welches die drei Monarchen seit langer Zeit vereinigt, besteht in voller Geltung, und ich kann Sie auch versichern, daß trotz der entgegengesetzten Stimmen, die in der österreichischen Presse hier und da laut werden, und deren Motive, Quellen, Wurzeln ich nicht weiter hier besprechen will – daß trotzdem das Verhältnis zwischen Rußland und Österreich von jeder Trübung weit entfernt ist und vollkommen in einer solchen Lage – und wir sind darüber sehr genau unterrichtet – daß das Dreikaiserbündnis noch heute seinen Namen im vollsten Maße verdient und sich im vollsten Bestände befindet.

    Man würde aber sehr irren, wenn man daraus schließen wollte, daß das Dreikaiserbündnis in sich eine Spitze gegen die dritte der hauptsächlich beteiligten Mächte in der orientalischen Frage, gegen England, zu bilden bestimmt wäre. Wir haben mit England nicht minder wie mit Rußland die Tradition einer hundertjährigen guten Beziehung – die unter Umständen in dem öffentlichen Gefühle ihre Momente der Erkaltung gehabt hat – ich kann wohl sagen, mehr einseitig auf englischer Seite; wir sind unseren ersten Neigungen in der Beziehung fast durchgehends treugeblieben. Daß mitunter ein Preßkampf unter beiden Völkern, gelegentlich, vorüber¬gehend, stattgefunden, das hindert nicht, daß die durch eine lange Geschichte bewährte Gemeinsamkeit mannigfacher Interessen und Meinungen zwischen uns und England auch für die Zukunft der Bürge des Einverständnisses ist.

    Also wir haben uns in der orientalischen Frage eine Aufgabe gestellt – und daraus, wenn ich sie charakterisiere, wird der Herr Interpellant zugleich entnehmen, daß innerhalb des Programms dieser Aufgabe die Zollfrage an sich keinen Platz hat, und daß er die Sachen auseinanderhalten muß: Politik besonders und die Zollfrage besonders. Wir haben in der Türkei selbst ja die Interessen, die ich vorher charakterisierte, der allgemeinen Sympathie mit unseren Mitchristen, und wenn der Herr Vorredner vorher ein von ihm selbst als apokryph behandeltes Gerücht anführte, daß ich gesagt haben soll, im ganzen Orient steckte kein Interesse, was so viel wert wäre, als der Ertrag eines pommerschen Rittergutes, so ist das irrtümlich. Es ist in allen solchen Legenden ein Stückchen Wahrheit, und a Bisserle Falschheit ist allweil dabei. (Große Heiterkeit.) Ich habe gesagt: ich werde zu irgendwelcher aktiven Beteiligung Deutschlands an diesen Dingen nicht raten, so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur – entschuldigen Sie die Derbheit des Ausdrucks – die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre. Ich habe ausdrücken wollen, daß wir mit dem Blute unserer Landsleute und unserer Soldaten sparsamer sein müßten, als es für eine willkürliche Politik einzusetzen, zu der uns kein Interesse zwingt. (Bravo!) Und insofern sind wir allerdings der Mindestbeteiligte. Vielleicht ist Frankreich ebensowenig beteiligt. Von den übrigen drei Mächten, von den zunächst beteiligten Ländern, mit denen wir mit jeder einzelnen in ungetrübter Freundschaft stehen, kann man das nicht absolut sagen; es können die Dinge doch eine Gestaltung annehmen, die die türkischen Interessen zu einheimischen, englischen, österreichischen, russischen macht – sie sind darin in einer anderen Lage. Wenn die jetzige orientalische Frage, soweit sie sich übersehen läßt, soweit sie überhaupt vorliegt, soweit sie nicht auf Konjekturen und Phantasien beruht – wenn dieselbe für uns überhaupt meinem Urteile nach keine Kriegsfrage enthält, so enthält sie doch sehr wohl die Aufforderung zu einer außerordentlich vorsichtigen Politik, die sich den anderen Mächten durch ihr Wohlwollen und ihre Friedensliebe empfiehlt und empfehlen kann, weil sie dadurch keines ihrer Interessen verletzt.

    Mein Bestreben und meine mir von Seiner Majestät dem Kaiser gestellte Aufgabe ist: dahin in dem diplomatischen Verkehr zu wirken, daß womöglich die guten Beziehungen, in denen wir zu den drei nächstbeteiligten Mächten sind, ungetrübt oder doch möglichst wenig getrübt aus dieser Krisis hervorgehen mögen, daß wir sie pflegen sollen, wie wir können. Es könnte uns nur dadurch diese Aufgabe verdorben und gestört werden, wenn irgendeiner unserer Freunde von uns verlangte, unsere stärkere Freundschaft zu ihm dadurch zu betätigen, daß wir den anderen Freund, der uns ebenfalls nichts getan hat, der im Gegenteil unser Freund bleiben will, feindlich behandeln und unsere stärkere Liebe zu dem einen beweisen durch Haß gegen den anderen. Es liegt das nicht außerhalb der Möglichkeit. Wir sind in den Jahren 1853, 1854, 1855 ähnlichen Zumutungen in einem Maße ausgesetzt worden, wo ich die Geduld unseres damaligen allergnädigsten Herrn bewundert habe, und wo meine politischen Ansichten mit denen meines damaligen Vorgesetzten [Friedrich Wilhelm IV.] nicht immer zusammenfielen. Ich würde in seiner Stelle die Versuche, uns für fremde Interessen aus Gefälligkeit oder aus Furcht vor Krieg in einen schädlichen Krieg mit anderen zu treiben – ich würde solche Versuche sehr entschlossen und in einer unangenehmen Weise zurückgewiesen haben, sollte ich auch schließlich in die Lage gekommen sein, den Zutritt in der Pariser, der damaligen Pariser Konferenz nicht mehr zu finden; es wäre uns gar nichts verloren gewesen, wenn wir nicht dabei gewesen wären. (Heiterkeit. Sehr richtig!)

    Also dergleichen liegt nicht außer dem Bereich der Möglichkeit; es geschah uns damals, und es hat schließlich doch die treue und feste Gesinnung des damaligen Königs von Preußen seinem Volke gegenüber, das er in unnütze Kriege, in unnütze Händel, in ein Zerwürfnis mit einem seit mehreren Jahrhunderten treu wohlwollenden Nachbarn nicht bringen wollte, schließlich ihre Früchte und Nutzen getragen. Ich bin aber gar nicht des Glaubens, daß man uns jetzt gleiche Zumutungen machen werde; bis jetzt sind sie uns von keiner Seite gemacht worden. Im Gegenteil, unsere allen gegenüber wohlwollende freundschaftliche Stellung, allen diesen dreien gegenüber, ist von jeder einzelnen gewürdigt worden. Man hat dieselbe natürlich gefunden, uns mit jeder unbilligen Zumutung verschont, im Ge¬genteil, man weiß die Nützlichkeit dieser unserer Stellung zu schätzen; denn wir allein haben die Möglichkeit, unbeteiligt zu vermitteln in einer Richtung hin, die entweder den Krieg verhindert, oder, wenn das sich als möglich in der Zukunft nicht erweisen sollte, wie wir bisher doch noch die Hoffnung haben – wenn er nicht verhindert wird, daß unsere Stellung wenigstens die Mittel dazu bieten kann, ihn einzuschränken oder, wie der Kunstausdruck ist, zu lokalisieren, seine weitere Verbreitung zu verhin¬dern, zu hindern, daß aus dem orientalischen Kriege ein europäischer werde, ein Krieg zwischen zwei europäischen Mächten.

    Also selbst wenn, wie ich schon erwähnte, die Konferenz scheitern sollte, sei es, daß die Mächte unter sich sich nicht einigen, sei es, daß sie über das, worüber sie sich geeinigt, eine Zustimmung der Türkei nicht erlangen, wenn infolgedessen Rußland auf eigene Hand verfahren sollte, so ist es deshalb noch nicht notwendig, daß dieser Krieg weitere Teilnahme finde; wenigstens wird unser Bestreben dahin gerichtet sein, soweit freundschaftliche und beiden Teilen annehmbare Vermittelung das vermag, daß wir das Weitergreifen des Krieges hindern. Ich halte es nicht für notwendig; die englischen und russischen Interessen mögen ja sehr schwierige Berührungspunkte haben und der Ausgleich unter sich sehr schwierig sein; ob aber eine Kriegführung zwischen zwei so mächtigen Staaten, von denen keiner doch geographisch in der Lage ist, dem anderen einen vollen Zwang anzutun, selbst wenn er siegreich sein sollte, gerade die Verständigung über die wun¬den Punkte fördern würde, ob nicht beide selbst, durch unsere Vermittelung oder direkt, zu der Überzeugung zu bringen sind, daß sie besser tun, sich im friedlichen Ausgleich ihrer Interessen gegenseitig zu verständigen, das muß die Zukunft lehren.

    Wir hoffen – und jedenfalls wird unser Bestreben dahin gerichtet sein – in erster Linie, daß wir uns den Frieden und die Freundschaft mit unseren bisherigen Freunden bewahren; in zweiter Linie, daß wir, soweit es durch freundschaftliche, von allen Seiten bereitwillig aufgenommene Vermittelung möglich ist, unter absolutem Ausschluß aber jeder komminatorischen Haltung von unserer Seite, uns bestreben, den Frieden unter den europäischen Mächten unter sich nach Möglichkeit zu erhalten – das heißt also, den Krieg, wenn er im Orient ausbrechen sollte, nach Möglichkeit zu lokalisieren. Gelingt das nicht, meine Herren, so entsteht eine neue Lage, über die ich mich in Konjekturen nicht einlassen kann, und über die Sie heute von mir keine Auskunft verlangen werden. Ich würde auch bei dieser Sachlage nicht so lange Ihre Geduld in Anspruch genommen haben, wenn nicht der Exkurs, den der Herr Interpellant auf das politische Gebiet machte, und die politischen Hilfstruppen, die er zur Unterstützung von Zollinteressen heranzog, mich genötigt hätten, auch das politische Gebiet zu betreten, ohne es in der ganzen vom Interpellanten mir aufge¬nötigten Ausdehnung zu durchschreiten. (Bravo!)

    In längerer Rede erklärte der Abgeordnete Hänel, daß Deutschlands Neutralität in allen Komplikationen Rußland zugute kommen werde und daß dieses deshalb vom Deutschen Reiche Gegendienste leisten könne. Fürst Bismarck entgegnet, daß er die Interpellation für die schwebenden Verhandlungen mit Rußland für nachteilig halte und daß er Hänel und Richter für Teile der Kraft halte, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. (Bewegung.) Nach einer zweiten Rede Hänels antwortet Bismarck:

    Wenn der Herr Abgeordnete erklärt, es sei unmöglich, daß die heutige Diskussion unsere Verhandlungen über die russische Zollfrage schädige, so kann ich dem gegenüber nur meine ebenso bestimmte Behauptung aufstellen, daß das, was er für unmöglich hält, doch Tatsache ist. Nicht die ganze Lage unserer Politik, aber die Verhandlung über diese neue Zollerschwerung, das Entgegenkommen der russischen Regierung in dieser Beziehung leidet darunter.
    Wenn mir nun der Herr Abgeordnete vorwirft, daß ich nicht erklärt hätte, wir wollen diese Interpellation nicht beantworten, so muß ich ihm den Vorwurf doch dahin zurückgeben: Sie hätten die Interpellation nicht stellen sollen, ohne sich vorher vertraulich zu vergewissern, ob sie opportun sei. Mir ist bisher nicht vorgekommen, daß von einer Partei – mit Ausnahme derjenigen Partei, die, und in den Zeiten, wo sie eine ganz entschlossene prinzipielle Opposition gegen die Regierung einnahm – daß von einer Partei, die mit der Politik der Regierung gehen will, eine Interpellation über auswärtige Politik ohne eine vorgängige Sondierung des Auswärtigen Amtes, ob sie bequem wäre oder nicht, gestellt wird.

    Wie ich diese Interpellation las, so mußte ich mir sagen, daß der Interpellant darüber, daß die Reichsregierung tut, was sie könne, um diesem Übelstande abzuhelfen, doch seinerseits gar nicht zweifelhaft sein könne. Diese Art von gewissenloser Pflichtwidrigkeit bei uns vorauszusetzen, daß wir den Schlag nicht empfänden, der uns dadurch zugefügt wird, daß wir nicht von selber alles täten, was wir zu seiner Abwendung, Milderung, Wiederabstellung tun könnten – den Grad von Gewissenlosigkeit wird er uns nicht zumuten. Ich mußte mir also sagen, dem Herrn Abgeordneten liegt es schwerlich daran, sich über etwas zu vergewissern, was er noch nicht weiß, sondern es liegt ihm daran, eine oppositionelle Interpellation zu stellen; und da ich leider gewohnt bin, den Herrn Abgeordneten in dieser Richtung, besonders wenn die Opposition eine Spitze gegen meine Person gewinnen kann, zu finden, so, glaube ich, hatte ich nicht den Beruf, dem Kampfe, den er mir brachte, auszuweichen; gesucht habe ich ihn nicht. Ich mußte nach seinem bisherigen Verhalten vermuten, daß er mir ein Gefecht liefern wollte. Mein Beruf ist es nicht, die Schlacht verloren zu geben, indem ich sage: Ich will die Interpellation nicht beantworten. Meine Herren, daraus hätten Sie, wenn Sie in dem Maße, wie ich voraussetze, gegen unsere Politik sind, sehr viel Nutzen auf unsere Kosten gezogen; das konnten Sie nicht verlangen, daß ich Ihnen das einräume. Das Volk hätte geglaubt, die Fortschrittspartei hätte etwas Besonderes gewußt, wenigstens doch der Herr Abgeordnete Richter, der ein weiser Mann in finanziellen Dingen ist, hätte ein Mittel gehabt, wenn die Regierung sich nur darauf hätte einlassen wollen. Meine Herren, dann hätten wir auf dem Gebiete der inneren Politik eine Schlacht verlorengegeben, was doch niemand verlangen kann, sondern so oft man von irgendeiner Seite eine Interpellation stellt, werden wir sie beantworten, und es ist mir nicht erinnerlich, daß diese Ablehnung jemals vorgekommen wäre. (Zuruf: O ja!)

    Ich kann mich täuschen in meiner Erinnerung, aber wie gesagt, ich erinnere mich nicht auf eine Ablehnung der Beantwortung einer Interpellation – außer vielleicht in der schwersten Konfliktszeit; aber, wie gesagt, so weit mein Gedächtnis reicht, ist es nicht geschehen. Eine Interpellation nicht zu beantworten, darüber können die Ansichten verschieden sein. Ich kann ja auch nicht wissen, wie sie motiviert wird; sie hätte ja auch so motiviert werden können, daß es eine Unterstützung unserer Verhandlungen wäre; der Herr Abgeordnete hat sie mir vorher nicht gezeigt. Wenn er nur wenigstens darüber geschwiegen hätte, daß wir Retorsionsmaßregeln unter keinen Umständen ergreifen! Gerade das ist für die Verhandlungen eine wesentliche Lähmung.

    Doch ich will in der Hauptsache auf den Gegenstand nicht zurückkommen, ich will nur von Hause aus erklären, daß alle diejenigen, die künftighin Interpellationen stellen wollen, in der wohlwollenden Absicht, die Regie¬rung zu unterstützen, die ich bei dem Herrn Interpellanten nicht voraus¬setzte, besser tun, sich über die Ansichten der Regierung zu unterrichten und sich bei mir oder meinem Nachfolger vorher zu erkundigen. Wenn das nicht geschehen ist, so sehe ich in einer Interpellation, die sachlich kein Mo¬tiv hatte, das Angebot eines Kampfes, dem ich nicht ausweiche.