Gespräch mit dem Korrespondenten des New York Herald, Friedrichsruh

    23. April 1890

     

    Ungleichheit unter den Menschen ist nach Bismarcks Ansicht der Motor jeden Fortschritts. Der Sozialismus sei keine Lösung, er lähme wie die Sklaverei jeden Antrieb. Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital müsse immer weiter gehen und dürfe trotz aller Siege der Arbeiter nicht endgültig zu ihren Gunsten entschieden werden, denn würde „die menschliche Tätigkeit zu einem Stillstand kommen“.

    Wenn es etwas in den wirtschaftlichen Verhältnissen Deutschlands gibt, was Fürst Bismarck vollständig beherrscht, so ist es die soziale Frage. Aus diesem Grunde wurde der Fürst um den Ausdruck seiner Meinung ersucht über die für den 1. Mai geplante sozialistische Demonstration. Zuerst lehnte Seine Durchlaucht es ab, irgendeine Meinung darüber abzugeben, aber seine freundliche Stimmung gegen die Vereinigten Staaten im allgemeinen und den New York Herald im besonderen bewogen ihn schließlich, zu dessen Gunsten von seinem Grundsatze, sich niemals interviewen zu lassen, eine Ausnahme zu machen.

    Der Fürst drückte sich ungefähr wie folgt aus:


    „Wenn ich noch Minister wäre, so würde ich es für besser halten, von aller Einmischung abzusehen, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen und eine beobachtende Politik einzuhalten. Wenn Gesetzwidrigkeiten versucht würden, so würde ich sie bekämpfen, aber sonst mit Gleichmut die Sache ansehen. Wenn der Arbeiter sich einen Tag auswählen will, um sich zu amüsieren und einen öffentlichen Aufzug zu veranstalten, so würde ich nichts tun, um ihn daran zu hindern. Eine repressive Gesetzgebung läuft immer auf dasselbe hinaus. Ungeschickte Versuche, Unheil zu verhindern, sind oft der einzige Grund des Entstehens von Unheil. Es wird oft mehr Unglück hervorgerufen durch die Absperrung einer Straße, die durch ein Gedränge gefährdet zu sein scheint, als dadurch, daß man den Verkehr beaufsichtigt und aufrechterhält, wie man dies zuweilen in Berlin und anderen großen Städten sehen kann. Alle möglichen Vorsichtsmaßregeln gegen alle möglichen Übel, die aus einer Lage entspringen können, zu ergreifen, kann zuweilen mehr Unheil schaffen, als wenn man ruhig den Ausgang abwartet. Es ist eine gute Regel, in solchen Fällen Drohungen sowohl wie Versprechungen zu vermeiden. Wenn der lärmende Streikende sieht, daß die Behörden außerordentliche Maßregeln ergreifen, um die Ruhe aufrechtzuerhalten, so weiß er, daß sie ihn fürchten. Und je mehr er dies begreift, um so angriffslustiger wird er. Der Gegensatz zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist meiner Meinung nach das Resultat eines Naturgesetzes und kann nach der Natur der Dinge niemals zum Abschluß kommen. Wir werden niemals in eine Lage kommen, wo die Arbeiter sagen werden: Wir sind zufrieden sowohl für uns, wie für unsere Kinder und Nachkommen. Man kann es als eine Grundwahrheit ansehen, daß es so lange der Wunsch des Arbeiters sein wird, seine Lage zu verbessern und vorwärts zu kommen, als er irgend jemand sieht, dessen Lage besser ist als die seinige. Eine große Verbesserung in der Lage der arbeitenden Klassen ist in der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts eingetreten. Vor fünfzig Jahren gingen die Kinder der armen Leute in Deutschland barfuß und hatten im Sommer bis zu ihrem zehnten oder zwölften Jahre kaum ein anderes Kleidungsstück als ein Hemd. Jetzt sind diese Kinder mit anständigen Kleidern und Schuhen versehen, für jung und alt ist die Ernährung besser, und sie arbeiten nicht so viele Stunden. Dies gilt meiner Ansicht nach von allen zivilisierten Ländern.“
    Ich erlaubte mir darauf ein Wort über die glückliche Lage der Arbeiter, die zu den Zünften in den blühenden Städten des Mittelalters gehörten. Seine Durchlaucht vernichtete ein ganzes Gewebe von Theorien durch das Wort: „Die Mitglieder der Zünfte waren keine Arbeiter im modernen Sinne, sie waren eine Aristokratie von Arbeitern und ihr Wohlergehen gründete sich auf Ausschließung.

    In diesem Kampf zwischen Arbeit und Kapital hat die Arbeit die meisten Siege errungen, und das wird überall der Fall sein, wo der Arbeiter eine Wahlstimme hat. Wenn es einmal zu einem endgültigen Siege kommt, so würde derselbe auf Seite des Arbeiters sein. Aber wenn dieser Kampf jemals zu einem Abschluß käme, so würde die menschliche Tätigkeit zu einem Stillstand kommen. Alles menschliche Streben und Kämpfen würde dann ein Ende nehmen, was meiner Ansicht nach nicht die Absicht der göttlichen Vorsehung ist. Eine andere Lösung ist nur möglich, wo Sklaverei besteht, also zum Beispiel in Afrika, wo der Stand der Zivilisation seit undenklichen Zeiten auf Grund der Sklaverei derselbe geblieben ist, da die Neger, ohne vorwärts zu streben, zufrieden sind, entweder wegen der Beschränktheit ihrer Einsicht oder aus Furcht vor der Peitsche. Dieser Zustand hat daselbst bestanden, seitdem die Geschichte darüber berichtet. Noch eine andere Lösung kann man in einem anderen Teile der Welt finden, auf ein paar tausend Inseln, wo infolge des Klimas und der anstrengungslosen Hervorbringung von Nahrungsmitteln keine Notwendigkeit zum Arbeiten besteht. Diese Lage der Dinge bestand, als wir Europäer zuerst dahin kamen und daselbst eine Art von Paradies fanden. Alles, was die Menschen da zu tun brauchten, war das Pflücken und Essen von Kokosnüssen und das Gehen und Spielen im Sonnenscheine. In einer solchen Lage gibt es keinen Fortschritt, sie hätten in dieser Weise Tausende von Jahren leben und sich mit einem solchen Leben Tausende von Jahren begnügen können, wie sanfte gutmütige Tiere. Aber in unserem Leben des Kampfes und des Strebens, wo der Fortschritt und die Zivilisation durch die Reibungen der menschlichen Konkurrenz hervorgebracht werden, muß die Gesellschaft, wenn sie Ruhe haben will, niemals aufhören, zum Kampfe bereit zu sein.

    Ebenso wie zwischen Nationen der Friede durch die Kriegsgefahr und die Entschlossenheit, für den Frieden zu kämpfen, wenn er bedroht sein sollte, aufrechterhalten wird, so könnte auch innerhalb einer politischen Gesellschaft, die aus Individuen von starkem Willen besteht, weder der innere Friede noch die Gerechtigkeit aufrechterhalten werden, wenn sie nicht durch die ausübende Gewalt verteidigt werden. Wenn die Richter nicht das Recht hätten, die Vollziehung ihres Urteils durch die physische Gewalt der Exekutive zu verlangen, so würde die Gerechtigkeit bald vollständig verschwinden und ohnmächtig werden. Dasselbe gilt meiner Meinung nach von der menschlichen Gesellschaft und dem Sozialismus. Wenn die politischen Parteien, welche dem Sozialismus sich entgegenstellen, sich nicht zur Verteidigung ihrer Unabhängigkeit und zum Besten der Mitbürger und ihrer Familien vereinigen, so müssen sie der Herrschaft des Sozialismus unterliegen, bis der Sozialismus seinerseits wieder durch das Übermaß des in ihm wie in der Sklaverei liegenden Elends erliegt. Denn das sozialistische Regierungssystem ist eine Art Sklaverei, eine Art Strafsystem; für die Vereinigung der in Aussicht genommenen Opfer eines solchen Systems wird die für den ersten Mai geplante Kraftprobe nicht ohne Nutzen sein. Bis jetzt ist der Haß jeder Partei gegen ihren nächsten Nachbarn noch stärker als die Furcht vor der Herrschaft der Sozialisten, weil man nicht an die Stärke der Sozialisten glaubt und in ihren Kämpfen untereinander jede Partei sich um die Gunst und das Bündnis und die Stimmen der Sozialisten bewirbt. Auch behalten sie in ihrer Gier, Stimmen zu erwerben, nicht die Gefahr und die Leiden im Auge, welchen die zivilisierte Gesellschaft ausgesetzt sein würde, wenn sie von dem am wenigsten gebildeten und am wenigsten intelligenten Teil der Gesellschaft beherrscht würde, dessen Unwissenheit leicht von irgendeinem beredten Lügner ausgenutzt wird, dessen Geschäftsgegenstand ‚die tausend natürlichen Übel sind, denen der Mensch unterworfen ist‘, für welche sie jede bestehende Regierung verantwortlich machen wollen, während sie selbst in großen billigen Versprechungen arbeiten. Das nenne ich eben ein Lügner sein; der Pöbel ist ein Herrscher, der ebenso geschmeichelt sein will, wie irgendein Sultan.

    Nein, dieser Kampf der Klassen wird niemals aufhören. Ihn lösen zu wollen, wäre dasselbe, wie das Problem der Quadratur des Kreises lösen zu wollen. Es ist eine Utopie, der Traum eines tausendjährigen Reiches, das Millennium, das nur verwirklicht werden kann, wenn die Menschen Engel werden. Irgendein Arrangement auf Grund eines festen Arbeitslohnes, zum Beispiel fünf Schilling pro Tag, ist nicht ausführbar. Kein solches Arrangement würde bindend gemacht werden können für diejenigen, welche hundert Jahre später leben werden. Auch würde der Arbeiter von heute nicht zufrieden bleiben. Man gebe ihm fünf Schilling, und er würde bald sechs oder selbst sieben verlangen. Es ist überflüssig, eine endgültige Lösung dieser Frage mit Ausschluß eines jeden künftigen Kampfes für möglich zu halten. Der Sozialismus wird uns noch viel Mühe machen. Den Regierungen ist oft der Vorwurf gemacht worden, sie hätten es sowohl an Energie wie an Wohlwollen fehlen lassen. Ich nenne es nicht Nachsicht, wenn ein Mensch so feige ist, dem Druck einer Demonstration nachzugeben. Zuweilen besteht das echte Wohlwollen darin, Blut zu vergießen: das Blut einer aufrührerischen Minorität, und zwar zur Verteidigung der ruheliebenden und dem Gesetz gehorchenden Majorität. Das erste Erfordernis einer Regierung ist Energie. Sie darf nicht der Zeit sich anbequemen, nicht die Zukunft für eine nur zeitweilig bequeme Einrichtung aufopfern. Eine Regierung muß konsequent sein. Die Festigkeit, ja sogar die Härte einer herrschenden Macht ist eine Bürgschaft des Friedens, sowohl nach außen wie nach innen. Eine Regierung, die immer bereit ist einer Majorität nachzugeben, sei die letztere nun eine lokale oder bloß zeitweilige, eine parlamentarische oder aufrührerische, und welche ihr Ansehen nur durch Zugeständnisse aufrechterhält, von denen jedes den Weg zu einem neuen Zugeständnis anbahnt, eine solche Regierung befindet sich in einer traurigen Klemme.

    Nein, der erste Mai ist nicht gefährlich. Einen Feind – wenn wir die Sozialisten als einen Feind ansehen –, welcher den Tag seines Angriffs vorher anzeigt, brauchen wir nicht zu fürchten. Es ist ein Scheingefecht, ein Prahlen mit Stärke, wie bei der Heilsarmee, bei dem der Erfolg oder das Fehlschlagen zum großen Teil vom Wetter abhängen wird. Es ist wenig Gefahr eines Konfliktes vorhanden; aber ob ein solcher stattfinden wird oder nicht, hängt größtenteils von dem Takt der Behörden ab. Vorbeugungsmaßregeln verdanken ihren Erfolg größtenteils der Umsicht der Exekutivbeamten, die selten gute Politiker zu sein pflegen, so daß ihre Maßregeln zuweilen mehr Schaden als Nutzen anrichten. Doch erwarte ich keine Unruhe, und der erste Mai wird mir keine schlaflose Nacht machen.“

    Von Lassalle, der früher ein intimer Freund von ihm war, sagt der Fürst: „Er war ein reizender Mensch, ein kluger Jude mit einer guten Portion Eitelkeit, aber noch mehr Witz und Kenntnissen. Seine Unterhaltung war entzückend; in dem Ausdruck seiner Überzeugungen war er zu der Zeit, als ich ihn kannte, vollständig aufrichtig, aber er war nicht immer konsequent in seinen Meinungen, und wenn er heute lebte, so möchte ich glauben, daß er ein Konservativer sein würde, auf jeden Fall kein Sozialist.“

    Der Fürst sieht kräftig und wohl aus und ist bei guter Laune. Er sprach englisch, und zwar sehr schnell; aber über die Ursachen, die zu seiner Entlassung führten, verweigerte er jede Auskunft.