Ansprache an die Mitglieder der nationalliberalen Partei des Reichstags, Friedrichsruh

    20. April 1894

     

    Die Reichsverfassung sei ihm nicht „auf den Leib geschnitten“ gewesen, auch sein Nachfolger Caprivi könne mit ihr gut regieren. Eine wichtige Aufgabe des Reichstags seien nun die Krisen der Landwirtschaft. Auch der Umgang mit der Sozialdemokratie und „die polnische Frage“ erforderten Aufmerksamkeit. Einen Krieg erwarte er nicht, da in allen Ländern noch das Schießpulver verbessert werde.

    Eure Durchlaucht sehen einige Abgeordnete des deutschen Reichstags vor sich, die als Mitglieder und Hospitanten der nationalliberalen Fraction angehören und in ihrer Mehrheit erst im vorigen Jahre in den Reichstag eingetreten sind. So ist es gekommen, daß wir zu unserem Bedauern und dem des ganzen deutschen Volkes dort Eure Durchlaucht nicht mehr an der stelle sahen, wo, wie wir gehofft hatten, sie noch lange, lange Jahre stehen würden. So ist es gekommen, daß wir Sie bitten mußten, uns an dieser Stelle zu empfangen, um Ihnen unsere Huldigungen darzubringen und in einer kurzen Stunde persönlichen Zusammenseins uns für die künftige politische Thätigkeit zu stärken.

    Als wir im vorigen Jahre nach heißen Kämpfen von unseren Mitbürgern in den Reichstag gesandt wurden, haben unsere Wähler uns eine Menge von Wünschen mit auf den Weg gegeben, die erklärlicher Weise zunächst auf die Fragen des Tages und auf die materiellen Interessen gerichtet waren, die sich ja heute in unserem Leben mehr als wünschenswerth geltend machen. Ich möchte aber ganz ausdrücklich betonen, daß unsere Wähler auch von uns forderten, daß wir in der Politik die Wege wandeln möchten, die von Eurer Durchlaucht in der Politik für diese Generation festgelegt worden sind, soweit es Zeit und Umstände gestatten, daß wir aber über allen Wandel der Verhältnisse hinaus treu zur Person unseres Fürsten Bismarck stehen möchten. Am jüngsten Geburtstage Eurer Durchlaucht sind ja wohl mehr als elftausend Glückwünsche hier eingetroffen, aber Hunderttausende sind es, die hinter uns und diesen Gratulanten stehen, und gerade wir, die wir so oft daheim Gelegenheit haben, in engerem oder weiterem Kreise Trinksprüche auf unseren Nationalhelden auszubringen, oder in sie begeistert einzustimmen, dürfen bezeugen, daß die Liebe und Verehrung zu Eurer Durchlaucht in den letzten vier Jahren nicht vermindert, sondern mächtig gewachsen ist. Hunderttausende beneiden uns um das Glück dieser Stunde, und so darf ich wohl meine hier erschienenen Freunde auffordern, begeistert mit mir einzustimmen in den Ruf: Hoch und noch lange lebe zum Heile des Vaterlandes unser Altreichskanzler Fürst Bismarck!

    Fürst Bismarck erwiderte:

    Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre freundlichen Worte und Ihnen Allen, meine Herrn, danke ich für die hohe Ehre, die sie mir erzeigen, indem sie mir durch Ihren Besuch hier in Friedrichsruh bekunden, daß die Reichsverfassung und meine Mitarbeit an derselben sie noch heut befriedigt und sie mir wegen dieser Mitarbeit Ihre Anerkennung zollen. Es hieß früher, daß die Verfassung mir persönlich auf den Leib geschnitten sei und daß ich, wie jener Danziger Uhrmacher, der einzige sei, der die Uhr im Gange halten könne. Wie unrichtig diese Anschauung ist, beweist die Tatsache, daß auch Graf Caprivi unter zu Zeiten schwierigen Umständen nun doch seit vier Jahren mit dieser Verfassung regiert hat, ohne das Bedürfnis einer Änderung zu empfinden und ohne in der Verfassung einen Hemmschuh nationaler Tätigkeit zu erblicken, wie dies früher zur Zeit des alten Bundestags der Fall gewesen ist. Ich zweifle nicht daran, daß diese Verfassung, welche sich anknüpft an historisch Gewordenes oder, wie der Geologe sagt, an „gewachsenen Boden“, ihre Proben auch ferner bestehen wird, so ernsthaft sie auch sein mögen.

    Es liegen manche schwere Aufgaben für die nächsten Reichstage vor. Ich nenne in erster Linie die Deckung des finanziellen Ausfalls unter Schonung des guten Einvernehmens der verschiedenen Classen der Kontribuablen, welche bei der Finanzreform zur Deckung des Ausfalls herbeigezogen werden können, der durch den Verzicht auf erhebliche Beträge der Zölle nötig geworden ist. In zweiter Linie die Notlage der Landwirtschaft, die doch einen zu erheblichen Antheil unsrer Landsleute betrifft, um von Reichs wegen ignoriert werden zu können. Die Annahme, daß die Landwirtschaft die Reichsgesetzgebung nichts anginge, weil sie unter Artikel 4 der Verfassung nicht aufgeführt sei, zeigt ja doch einen Mangel an Vertrautheit mit unserm Verfassungsleben, mit den Absichten der Gesetzgeber, mit unserm ganzen wirtschaftlichen Leben, wie ich ihn kaum für glaublich hielt, und wie ich ihn nicht an so hoher Stelle gesucht hätte. In jenem Artikel der Verfassung ist auch kein andres Gewerbe genannt, und man könnte mit demselben Recht sagen, alle Handwerker, seien es Schuhmacher, Schmiede oder sonst irgendwelche, gingen das Reich und seine wirtschaftliche Gesetzgebung nichts an. Aber der Reichsgesetzgebung können unmöglich die Geschicke von zwanzig Millionen Reichsbürgern, die Landwirtschaft betreiben, gleichgiltig sein. Mag die Landwirtschaft ausdrücklich und formell als zur Kompetenz des Reiches gehörig bezeichnet sein oder nicht —, sie gehört eben zur wirtschaftlichen Pflege der Gesetzgebung des Reichs.

    Wir haben eine weitre schwierige Aufgabe zu lösen auf dem Gebiete der Beziehungen der geordneten staatlichen Gesellschaft zur Sozialdemokratie. Ich glaube nicht, daß diese Frage auf die Dauer einfach totgeschwiegen werden kann, sondern daß man ihr früher oder später aktiv näher treten muß, — auf welche Weise, darauf will ich heut nicht weiter eingehen. Wir haben ferner speziell bei uns in Preußen neuerdings die polnische Frage wieder beleben sehn, die in ihrer Ausdehnung auf Oberschlesien, wo dieselbe früher nicht bekannt gewesen, schädlicher wird, als sie war, für die mühsam errungene Einigkeit der Bevölkerung und für ein günstiges Verhältnis zu unsern polnisch sprechenden Landsleuten. Man hat die polnische Begehrlichkeit neu aufgemuntert, und das ist ein bedenkliches Experiment, zumal in der polnischen Frage eine europäische Frage über Krieg und Frieden liegt.

    Ich glaube ja nicht, daß ein Krieg nahe bevorsteht. Es ist weniger die friedliche Gesinnung aller Regierungen, die den Frieden bisher erhält, als die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Chemiker in der Erfindung neuer Pulversorten und der Techniker in der Vervollkommnung der militärischen Ballistik und deshalb die für die Leiter eines kriegslustigen Staates unter Umständen entscheidende Erwägung, daß sie es nicht für erfolgreich halten, loszuschlagen, wenn ihre Heere nicht im Besitze der neusten Erfindungen sind.

    Es klingt fast wie Satire, ist es aber nicht, daß der Chemiker bisher die Schwerter in der Scheide hält und durch seine Erfindungen über Krieg und Frieden entscheidet. Ich will damit nur aussprechen, daß ich nach meinen politischen Erfahrungen an keine nahe bevorstehenden auswärtigen Verwicklungen glaube, weil keine von den großen europäischen Mächten mit ihren Vorbereitungen fertig ist. Aber immerhin sind die Schwierigkeiten, denen wir entgegengehen, so groß, daß sie uns gebieterisch die Notwendigkeit nahe legen, wie der Seemann sagt, uns klar zum Gefecht zu halten; dazu rechne ich, daß in den Parteikämpfen Maß gehalten werde, daß die staatserhaltenden Parteien sich weniger trennen, sondern nach Möglichkeit einander nähern und sich wie früher zu einem Kartell zusammentun, dem Bedürfnisse geordneter Zustände folgend, welches sie einigt in der Pflege unsrer verfassungsmäßigen Einrichtungen, und damit komme ich auf den Punkt, der mir augenblicklich am Herzen liegt, daß wir uns so einrichten müssen, wie wir auf die Dauer im Geiste und Sinne der Verfassung bestehen können. Die Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten können auf die Dauer nicht getrennt sein, ohne die Verfassung zu fälschen, die Autorität des Reichs zu schwächen. Der Gedanke einer Personalunion zwischen dem Reich und Preußen, ähnlich derjenigen zwischen Schweden und Norwegen, hat niemals in der Verfassung gelegen, und wir haben, wie die Herrn von Ihnen, die alt genug sind, um das mit mir erlebt zu haben, bestätigen werden, zwischen Reichspolitik und preußischer Politik an die Möglichkeit eines gegenseitigen Bekämpfens und Rivalisierens niemals gedacht, und wer diesen Gedanken zur Wirklichkeit machen wollte, der, ich will keinen harten Ausdruck gebrauchen, schädigt – unwissend vielleicht – unsre nationale Existenz, unsre Unabhängigkeit, unsre verfassungsmäßige Sicherheit. Ein Reichskanzler, der nicht auf die Autorität des preußischen Staatsministeriums gestützt ist, schwebt mit der seinigen in der Luft, wie ein Seiltänzer. Die Bedeutung des Reichskanzleramts in unsrer Politik im Verhältnisse zu Preußen ist gedacht wie etwa in jenem Beispiele der griechischen Mythologie von Antäus, der aus der Berührung mit der mütterlichen Erde immer neue Kräfte sog, und den Hercules in die Luft heben und isolieren mußte, um ihn zu erwürgen. Es ist ganz einleuchtend, daß ein Reichskanzler, der gestützt ist auf das gesamte preußische Staatswesen, mehr Bedeutung hat als einer, der nur auf seinen persönlichen Wirkungskreis und auf die Erfahrungen, die er persönlich in militärischer Stellung sammeln konnte, angewiesen ist.

    Das Reich ist gestützt auf die Ministerien aller verbündeten Staaten, deren jedes seinem Lande verantwortlich ist für die Art, wie es sich im Bundesrat verhält; namentlich trifft dies aber auf das preußische Staatsministerium zu, und ich bedaure, daß meine Landsleute im preußischen Landtage Interpellationen hierüber völlig unterlassen haben, vielleicht in der Hoffnung, daß, wenn sie artige Kinder wären und, dem Reichskanzler zustimmend, ihn seine Politik ohne preußische Kontrolle betreiben ließen, sie wieder nach vorn kommen würden. Ein Reichskanzler, der nicht die Stimmführung für Preußen hat, ist ja in der Gesetzgebung eine ganz ohnmächtige Potenz. Er kommt in der verfassungsmäßigen Ordnung der Dinge gar nicht zur Erscheinung. Er kann die Gesamtpolitik nicht anders vertreten als in Übereinstimmung mit der Mehrheit seiner preußischen Ministerkollegen. Wenn er sich von denen lossagt, so steht er in der Luft. Im Bundesrat ist er dann nichts andres als ein Verwaltungsbeamter des Reichspräsidiums — setzen wir einmal diesen Namen für den des Kaisers, wie es ja ursprünglich war. Es ist meines Erachtens das nächste Bedürfnis der Zukunft, was wir politisch zu erstreben haben, daß diese unnatürliche Trennung zwischen dem Reichskanzleramte und dem preußischen Ministerpräsidium aufhöre, und daß der Reichskanzler in der Lage bleibe, das solide Fundament des preußischen Staates unter sich zu haben, dadurch kann seine Autorität im Reiche und im Auslande nur wachsen. Wenn die übrigen Bundesgenossen Preußen das Präsidium übertragen haben, so geschah das nicht nur, um einen von Preußen ernannten Reichskanzler zu schaffen, sondern im Vertrauen zu der Tüchtigkeit des preußischen Staates in Zivil und Militär. Wenn aber dieses hinter ihm wegfällt, so ist der Reichskanzler nichts als ein Luftgebilde. Das Gewicht der Reichsvertretung, wie sie der Reichskanzler führen soll, kann sich nur abschwächen, wenn die Autorität von zehn preußischen Staatsministern mit vielleicht fünfhundert geschulten Beamten und Ministerialräten hinter ihm fortfällt und der Kanzler einhertritt auf der eignen Spur als freier Sohn der eignen Natur, auf Wegen, die niemand kontrolliert als er selbst. Er kann nach seiner Vergangenheit die Erfahrung nicht besitzen, welche die Erfahrung der zehn Minister mit ihrer Gefolgschaft von Räten aufwiegt. Diese sind der Ballast in unserm Reichsschiffe, und wenn die wegfielen, so wäre es ein Gewinn, wenn der Ausfall der preußischen Unterlage durch ein bayrisches oder sächsisches Ministerium hinter ihm ersetzt würde. Daran ist ja kein Gedanke. Sein Schiff fährt isoliert, ohne an einen staatlichen Kurs gebunden zu sein.

    Ich fürchte, meine Herrn, daß ich weitschweifig wurde, und Sie haben mir Ihre Zeit nur sehr kurz bemessen. Ich habe mich aber lange nicht politisch ausgesprochen. Es wird Zeit, daß ich Sie noch meiner Frau vorstelle und Sie sich noch durch einen Trunk und kleinen Imbiß stärken.