Brief an Kaiser Wilhelm II., Berlin, 18. März 1890

     

    Brief an Kaiser Wilhelm II., Berlin, 18. März 1890

    Bei meinem ehrfurchtsvollen Vortrage am 15. d. M. haben Euere Majestät mir befohlen, einen Ordre-Entwurf vorzulegen, durch welchen die Allerhöchste Ordre vom 8. September 1852, welche die Stellung des Ministerpräsidenten seinen Collegen gegenüber seither regelte, außer Geltung gesetzt werden soll.

    Ich gestatte mir über die Genesis und die Bedeutung dieser Ordre nachstehende allerunterthänigste Darlegung:

    Für die Stelle eines „Präsidenten des Staatsministeriums“ war zur Zeit des absoluten Königthums kein Bedürfniß vorhanden, und wurde zuerst auf dem Vereinigten Landtage 1847 durch die damaligen liberalen Abgeordneten (Mevissen) auf das Bedürfniß hingewiesen, verfassungsmäßige Zustände durch Ernennung eines „Premierministers“ anzubahnen, dessen Aufgabe sein würde, die Einheitlichkeit der Politik des verantwortlichen Ministerkollegiums zu überwachen und herbeizuführen, und die Verantwortung für die Gesammtergebnisse der Politik des Kabinetes zu übernehmen. Mit dem Jahre 1848 trat diese konstitutionelle Gepflogenheit bei uns ins Leben, und wurden „Präsidenten des Staatsministeriums“ ernannt, wie Graf Arnim, Camphausen, Graf Brandenburg, Freiherr von Manteuffel, Fürst von Hohenzollern, an deren Namen die Verantwortlichkeit in erster Linie haftete, nicht für ein Ressort, sondern für die Gesammtpolitik des Kabinetes, also der Gesammtheit der Ressorts. Die meisten dieser Herren hatten kein eigenes Ressort, sondern nur das Präsidium; so zuletzt vor meinem Eintritt, der Fürst von Hohenzollern, der Minister von Auerswald, Prinz Hohenlohe. Aber es lag ihnen ob, in dem Staatsministerium und in dessen Beziehungen zum Monarchen diejenige Einheit und Stetigkeit zu erhalten, ohne welche eine ministerielle Verantwortlichkeit, wie sie das Wesen des Verfassungslebens bildet, nicht durchführbar ist.

    Das Verhältniß des Staatsministeriums und seiner einzelnen Mitglieder zu dieser neuen Institution des Ministerpräsidenten bedurfte sehr bald einer näheren, der Verfassung entsprechenden Regelung, wie sie im Einverständniß mit dem damaligen Staatsministerium durch die Ordre vom 8. September 1852 erfolgt ist. Diese Ordre ist seitdem entscheidend für die Stellung des Ministerpräsidenten zum Staatsministerium geblieben, und sie allein gab dem Ministerpräsidenten die Autorität, welche es ihm ermöglichte, dasjenige Maß von Verantwortlichkeit für die Gesammtpolitik des Kabinets zu übernehmen, welche im Landtage und in der öffentlichen Meinung ihm zugemuthet wird. Wenn jeder einzelne Minister Allerhöchste Anordnungen extrahiren kann, ohne vorgängige Verständigung mit seinen Kollegen, so ist eine einheitliche Politik, für welche jemand verantwortlich sein kann, im Kabinet nicht möglich. Keinem der Minister, und namentlich dem Ministerpräsidenten nicht, bleibt die Möglichkeit, für die Gesammtpolitik des Kabinets die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit zu tragen. In der absoluten Monarchie war eine Bestimmung, wie die Ordre von 1852 sie enthält, entbehrlich und würde es auch heut sein, wenn wir zum Absolutismus, ohne ministerielle Verantwortlichkeit, zurückkehrten. Nach den zu Recht bestehenden verfassungsmäßigen Einrichtungen aber ist eine präsidiale Leitung des Ministerkollegiums auf der Basis des Prinzips der Ordre von 1852 unentbehrlich.

    Hierüber sind, wie in der gestrigen Staatsministerialsitzung festgestellt wurde, meine sämmtlichen Kollegen mit mir einverstanden und auch darüber, daß jeder meiner Nachfolger im Ministerpräsidium die Verantwortlichkeit für sein Amt nicht würde tragen können, wenn ihm die Autorität, welche die Ordre von 1852 verleiht, mangelte. Bei jedem meiner Nachfolger wird dieses Bedürfniß noch stärker hervor-treten wie bei mir, weil ihm nicht sofort die Autorität zur Seite stehen wird, die mir ein langjähriges Präsidium und das Vertrauen der beiden hochseligen Kaiser bisher verliehen hat. Ich habe bisher niemals das Bedürfniß gehabt, mich meinen Kollegen gegenüber auf die Ordre von 1852 ausdrücklich zu beziehen. Die Existenz derselben und die Gewißheit, daß ich das Vertrauen der Hochseligen Kaiser Wilhelm und Friedrich besaß, genügten, um meine Autorität im Kollegium sicherzustellen. Diese Gewißheit ist heut aber weder für meine Kollegen noch für mich selbst vorhanden. Ich habe deshalb auf die Ordre von 1852 zurückgreifen müssen, um die nöthige Einheit des Dienstes Euerer Majestät sicherzustellen.

    Aus vorstehenden Gründen bin ich außer Stande, Euerer Majestät Befehl auszuführen, laut dessen ich die Aufhebung der vor Kurzem von mir neu in Erinnerung gebrachten Ordre von 1852 selbst herbeiführen und kontrasigniren, trotzdem aber das Präsidium des Staatsministeriums weiterführen soll.

    Nach den Mittheilungen, die mir der Generallieutenant von Hahnke und der Geheime Kabinetsrath von Lucanus gestern gemacht haben, kann ich nicht im Zweifel darüber sein, daß Euere Majestät wissen und glauben, daß es für mich nicht möglich ist, die Ordre aufzuheben und dennoch Ministerpräsident zu bleiben. Danach haben Euere Majestät den mir am 15. d. M. gegebenen Befehl aufrechterhalten und in Aussicht gestellt, mein dadurch nothwendig werdendes Entlassungsgesuch zu genehmigen.

    Nach früheren Besprechungen, die ich mit Euerer Majestät über die Frage hatte, ob Allerhöchstdenselben mein Verbleiben im Dienste unerwünscht sein würde, durfte ich annehmen, daß es Allerhöchstdenselben genehm sein würde, wenn ich auf meine Stellungen in Allerhöchstdero Preußischen Diensten verzichtete, im Reichsdienst aber bliebe. Ich habe mir nach näherer Prüfung dieser Frage erlaubt, auf einige bedenkliche Konsequenzen dieser Theilung meiner Aemter, namentlich bezüglich künftigen Auftretens des Kanzlers im Reichstage, in Ehrfurcht aufmerksam zu machen und enthalte mich, alle Folgen, welche eine solche Scheidung zwischen Preußen und dem Reichskanzler haben würde, hier zu wiederholen. Euere Majestät geruhten darauf zu genehmigen, daß einstweilen „Alles beim Alten bleibe“. Wie ich aber die Ehre hatte, auseinanderzusetzen, ist es für mich nicht möglich, die Stellung eines Ministerpräsidenten beizubehalten, nachdem Euere Majestät für dieselbe die capitis diminutio [Verlust der persönlichen Freiheit] der wiederholt befohlen haben, welche in der Aufhebung der grundlegenden Ordre von 1852 liegt.

    Euere Majestät geruhten außerdem bei meinem ehrfurchtsvollen Vortrage am 15. d. M. mir bezüglich der Ausdehnung meiner dienstlichen Berechtigungen Grenzen zu ziehen, welche mir nicht das Maß der Betheiligung an den Staatsgeschäften, der Uebersicht über letztere und der freien Bewegung in meinen ministeriellen Entschließungen und in meinem Verkehr mit dem Reichstage und seinen Mitgliedern lassen, deren ich zur Uebernahme der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit für meine amtliche Thätigkeit bedarf.

    Aber auch wenn es thunlich wäre, unsere auswärtige Politik so unabhängig von unserer inneren, und unsere Reichspolitik so unabhängig von der Preußischen zu betreiben, wie es der Fall sein würde, wenn der Reichskanzler der Preußischen Politik ebenso unbetheiligt gegenüber stände, wie der Bayerischen oder Sächsischen, und an der Herstellung des Preußischen Votums im Bundesrathe und dem Reichstage gegenüber keinen Antheil hätte, so würde ich doch, nach den jüngsten Entscheidungen Euerer Majestät über die Richtung unsrer auswärtigen Politik, wie sie in dem Allerhöchsten Handbillet zusammengefaßt sind, mit dem Euere Majestät die Rückgabe der Berichte des Konsuls in Kiew gestern begleiteten, in der Unmöglichkeit sein, die Ausführung der darin von Euerer Majestät vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der auswärtigen Politik zu übernehmen. Ich würde damit alle die für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten im Sinne der beiden Hochseligen Vorgänger Euerer Majestät in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat, und deren über Erwarten große Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft Graf Schuwalow mir nach seiner Rückkehr von Petersburg soeben bestätigt hat.

    Es ist mir, bei meiner Anhänglichkeit an den Dienst des Königlichen Hauses und an Euere Majestät, und bei der langjährigen Einlebung in Verhältnisse, welche ich bisher für dauernd gehalten hatte, sehr schmerzlich, aus den gewohnten Beziehungen zu Allerhöchstdenselben und zu der Gesammtpolitik des Reiches und Preußens auszuscheiden; aber nach gewissenhafter Erwägung der Allerhöchsten Intentionen, zu deren Ausführung ich bereit sein müßte, wenn ich im Dienste bliebe, kann ich nicht anders, als Euere Majestät allerunterthänigst bitten, mich aus dem Amt des Reichskanzlers, des Minister-Präsidenten und des Preußischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten in Gnaden und mit der gesetzlichen Pension entlassen zu wollen.

    Nach meinen Eindrücken der letzten Wochen und nach den Eröffnungen, die ich gestern aus den Mittheilungen von Euerer Majestät Civil- und Militär-Cabinet entnommen habe, darf ich in Ehrfurcht annehmen, daß ich mit diesem meinem Entlassungsgesuch den Wünschen Euerer Majestät entgegenkomme, und also auf eine huldreiche Bewilligung meines Gesuches mit Sicherheit rechnen darf.

    Ich würde die Bitte um Entlassung aus meinen Aemtern schon vor Jahr und Tag Euerer Majestät unterbreitet haben, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, daß es Euere Majestät erwünscht wäre, die Erfahrungen u. Fähigkeiten eines treuen Dieners Ihrer Vorfahren zu benutzen. Nachdem ich sicher bin, daß Euere Majestät derselben nicht mehr bedürfen, darf ich aus dem politischen Leben zurücktreten, ohne zu befürchten, daß mein Entschluß von der öffentlichen Meinung als unzeitig verurtheilt werde.