Brief an Gustav Scharlach, Schönhausen, 4. Mai 1836

     

    Lieber Scharlach.

    Ich hoffe, Du wirst ernstlich böse werden, wenn ich mein langes Stillschweigen nur breche, um ein Versprechen zu revociren, durch dessen Erfüllung ich meine Nachlässigkeit einzig wieder gut zu machen hoffte. Ich gehe im nächsten Monat nach Aachen, aber nicht über Hanover, und unser Wiedersehen wird auf einen entfernteren Zeitpunkt hinausgeschoben, wenn Du mich nicht etwa auf einer Poststation zwischen Dresden oder Karlsbad und Frankfurt a. M. auffängst. Der Teufel reitet eine alte Tante von hoher Race, daß sie wünscht, ich soll sie als Reisemarschall nach Böhmen begleiten, und dort bei einem Verwandten abliefern. Der Umweg ist weit, aber eine alte Tante ist dasjenige Thier auf der Welt, vor welchem ich, nächst einer hübschen Cousine, die größte Ehrfurcht habe. Ich wage ihrer Ungnade nicht zu trotzen, und wenn ich anführe, ich hätte einen Freund in Hanover zu besuchen versprochen, so heißt es: „Lieber Otto, Du mußt Dich ja schämen, wenn Du nach Aachen kommst, und hast Dresden nicht einmal gesehen, und Freunde, die findest Du überall.“ „Schändliches altes Weib, das so leichtsinnig spricht!“ wirst Du hier ausrufen. Sie denkt wie’s ihr in der Jugend, so geht es uns auch. – Du würdest über mich lachen, wenn Du jetzt bei mir wärest. Seit vollen 4 Wochen sitze ich hier in einem alten verwünschten Schlosse, mit Spitzbogen und 4 Fuß dicken Mauern, einigen 30 Zimmern wovon 2 meublirt, prächtigen Damasttapeten, deren Farbe an wenigen Fetzen noch zu erkennen ist, Ratten in Masse, Camine, in denen der Wind heult, kurz, in „meiner Väter altem Schloß“, wo sich alles vereint, was geeignet ist, eine tüchtige Spleen zu unterhalten. Daneben ist eine prächtige alte Kirche, mein Schlafzimmer mit der Aussicht nach dem Kirchhof, auf der andern Seite einer jener alten Gärten mit geschnittenen Hecken von Taxus und prächtigen alten Linden.

    Die einzige lebende Seele in dieser verfallenen Umgebung ist Dein Freund, der hier von einer vertrockneten Haushälterin, der Spielgefährtin und Wärterin meines 65jährigen Vaters, gefüttert und gepflegt wird. Ich bereite mich zum Examen vor, höre die Nachtigallen, schieße nach der Scheibe, lese Voltaire und Spinozas ethicum, die ich in der hiesigen, an Schweinsledern ziemlich reichen Bibliothek gefunden. Die Berliner meinen, ich wäre verrückt, und die Bauern sagen: „Use arme junge Hehr, wat mak em wull sin“, wie mir meine alte „Mamsell“ mitgetheilt hat. Dabei bin ich nie so zufrieden gewesen wie hier; ich schlafe nur 6 Stunden und finde große Freude am Studiren, zwei Dinge, die ich lange Zeit für unmöglich hielt.

    Ich glaube, der Grund oder besser die Ursache von alledem ist der Umstand, daß ich den Winter über heftig verliebt war; ein recht befremdliches factum, eine Thorheit, der ich mich nicht in so hohem Grade für fähig gehalten hätte, (verzeih, eben fällt mir ein, daß Du versprochen bist –) aber es ist mir doch fatal, wie ich mich so aus meiner philosophischen Ruhe und Ironie habe bringen lassen; das Beste dabei ist aber, daß ich bei meinen Bekannten beiderlei Geschlechts immer für den kaltblütigsten Weiberverächter gelte; so täuschen sich die Leute! Sie selbst hält mich, glaube ich, für einen von den wenigen, auf die sie keinen Eindruck gemacht hat. Schließe aus dieser Redensart nicht etwa, daß ich noch verliebt bin, denn daß sie schön ist, kann ihr ein jeder sagen, ohne ihr zu schmeicheln. Du wirst sie vielleicht sehen, es ist meine Cousine [Karoline von Bismarck-Bohlen], jetzt versprochen mit dem 2ten Sohn des Hh. v. M[alortie] in Hanover. Aha! wirst du sagen – unglückliche Liebe – Einsamkeit – Melancholie – etc. Der Zusammenhang ist möglich, doch bin ich jetzt schon wieder unbefangen und analysire nach Spinozistischen Grundsätzen die Ursachen der Liebe, um es künftig mit mehr Kaltblütigkeit zu treiben. Eben „heult die Thurmuhr Mitternacht“; also schlaf wohl und erzähle mir in Deiner Antwort so viel von Dir, wie ich Dir eben von mir, 2 Themata, welche mich ganz absonderlich interessiren.

    Dein Freund
    Otto v.B.

    Für die Deiner Antwort zu gebende Direction muß ich noch anführen, daß ich bis zum 6ten Juni in Berlin, bis zum 15ten in Pommern, bis zum 28ten auf der Reise, von da an in Aachen sein werde.