Brief an Gustav Scharlach, Schönhausen, 4. Juli 1850


    Lieber Scharlach alias G. Giesicke.

    Thu’ mir den einzigen Gefallen und sei nicht bös über mein bisheriges die Gränzen der gewöhnlichen Höflichkeit überschreitendes Stillschweigen; Du würdest Mitleid mit mir haben, wenn Du wüßtest, wie faul ich bin, und ich behaupte, daß dies der Grundzug des Preußischen National-Charakters ist; wir thun nur, was wir müssen; deshalb liefern wir recht gute Subaltern-Offiziere und Soldaten, mit der Generalität ist es schon schwach, und kommt mein Landsmann aus dem regelrechten Zwange, sei es nun des bunten Rocks oder der festen Bureau-Stunden in die Unabhängigkeit des Privatlebens, als Gutsbesitzer, Bauer, Rennthier, so geräth er, geistig noch mehr als körperlich, in eine stagnirende Trägheit, bis ihn das große offizielle Räderwerk „im Namen des Kehnigs“ wieder bei irgend einem Rockzipfel erfaßt.

    In dieser nationalen Faulheit allein lag die Möglichkeit, daß sie uns im März 48 durch „Mißverständnisse“, durch einfachen Misbrauch des Königlichen Namens, eine Revolution octroyirten, mit der im Grunde nicht 10 000 Menschen im Königreich, von den Polen abstrahirt, einverstanden waren, und der man erst Sympathien schuf, indem man den Bauern und Arbeitern goldene Berge versprach. Auf diesen großen Nationalfehler beziehe ich mich zur Entschuldigung meiner persönlichen Faulheit; ich bin zu sehr schwarz-weiß, um eine Ausnahme zu machen und äußert sich bei mir diese Epidemie in einer krankhaften Furcht vor meinem eigenen Tintfaß; nur wenn es vollständig ausgetrocknet ist, fühle ich mich wohl in seiner Nähe.

    Ich freute mich so herzlich über Deinen Brief, sowohl, daß Du mir überhaupt wieder einmal schreibst, wie über den Inhalt und die Gleichheit unserer Ansichten, daß meine Frau gleich damals sagte, nun antworte aber auch, und mache es nicht wie mit allen Andern; seitdem hat sie oft gefragt: hast Du schon an Scharlach geschrieben? Aber in meiner Mappe liegen links „lettres à répondre“ soviel, daß ich sie gar nicht mehr hineinstecke, und rechts „lettres répondues“ ist ganz leer, mir graut vor dieser Mappe; indessen endlich schreibe ich doch wirklich, und ich will Dir ungefähr sagen, wie und wo. Wenn ich durch den aus meiner linken Hand aufsteigenden Cigarrenrauch zum Fenster hinaussehe, so blicke ich grade nach Norden, rechts und links erst alte Linden, dann ein altfränkischer Garten, mit geschnittenen Hecken, Göttern aus Sandstein, Buchsbaum, Franzobst, dahinter eine Wüste von Maizfeldern (leider nicht meine) und etwa eine Meile von mir, auf dem jenseitigen hohen Elbufer das Städtchen Arenburg, das Du auf jeder Karte der Altmark finden wirst; aus den Fenstern des südl. Giebels würde ich in ähnlicher Lage die Thürme von Tangermünde sehn, nach Westen im Nebel den Dom von Stendal. Der Blick nach innen zeigt ein großes 3-stöckiges Haus mit uralten dicken Wänden, Tapeten von Leder und Leinwand mit Chimsee und Landschaften, Rokokko-Möbel von verblichner Seide, und im Ganzen einen Zuschnitt, der auf eine glänzendere Vermögenslage berechnet ist, als der jetzige Besitzer von seinen Vorgängern überkommen hat, ein Misverhältniß, welches erhöht wird durch die Plünderungen, die unser „reactionäres“ Ministerium über das Rüstzeug der Reaction verhängt, in Gestalt von Rentenbanken, Grundsteuer, Befreiung des Grundeigenthums u. s. w.

    Das größte Glück, für welches ich Gott danke, ist mir durch meine Ehe geworden, in deren Verlauf von nun bald 3 Jahren ich mich des ungetrübtesten Sonnenscheins erfreue; ein Umstand, der mir bei Widerwärtigkeiten den Kopf über Wasser hält, ein Gewinnst in der Ehelotterie, den ich als eine besondere Gnade Gottes preise. Meine Frau hat mir eine im nächsten Jahre zweijährige Tochter und einen dicken und vergnügten, nunmehr 6 Monate und eine Woche alten Jungen geschenkt, welchen letzteren sie selbst nährt. Das Mädchen leidet etwas an Skropheln, und ich soll deshalb mit ihr in ein Ostseebad gehn. Demnach werde ich mich in der nächsten Woche mit Kind und Kegel nach Stolpmünde in Hinterpommern einschiffen; dort finde ich meine Schwiegerältern, die in der Umgegend wohnen. Meine Phantasie ist seit Wochen geschäftig, sich all die Gräßlichkeiten dieser Reise von 70 Meilen, mit 2 Mägden, Kindergeschrei, Windeln, Wickeln und Bettstücken auf das Lebhafteste auszumalen.

    Die Besorgniß, daß der Erfurter Humbug mich wieder in Anspruch nehmen werde, tritt in den Hintergrund, und bin ich sehr neugierig, wie unsere Minister und Herr v. Radowitz, der „Kluge“ katexochen es anfangen werden, die eigne Eitelkeit und Königliche Schwärmerei so weit zu betrügen, daß sie sich aus dem Lande der Romantik wieder in irgend eine Wirklichkeit herein laviren. Über Radowitz existirt viel Irrthum in dieser Welt. Die Meisten halten ihn für eine dämonische Natur, von großartigen, geistigen Hülfsquellen, die irgend welche geheime Zwecke mit überlegener Geisteskraft und Energie verfolgt; das Düstre seiner südslavischen Physiognomie, das Geheimnisvolle, in welches er sein Wesen zu drapieren beliebt, bestärken in dieser Ansicht. Wenn ich auch von ihm nicht sagen will, wie jener Preußische General von Napoleon: „uf Ehre, en seelensguter Kerl, aber domm, domm!“ so ist doch Radowitz ein Mann, der sich in nichts über das Niveau der Gewöhnlichkeit erhebt, als in einem erstaunlichen Gedächtnis, vermöge dessen er brockenweis ein umfangreiches Wissen in ihm der That nach fast unbekannten Fächern affectirt, und recht gute Reden für die Gallerie und das Centrum auswendig lernt, auch hat er die schwachen Seiten unseres allergnädigsten Herrn gut studiert, weiß ihm durch Mienen und große Worte zu imponieren, und seinen Edelmuth und seine Schwäche auszubeuten. Im Übrigen ist R. als Privatmann eine anständige und vorwurfsfreie Persönlichkeit, ein vortrefflicher Familienvater, als Politiker aber ohne irgend eine eigene Idee, von kleinlichen Expedients lebend, nach Popularität und Beifall haschend, getrieben von einer immensen persönlichen Eitelkeit, von Zeitungsdeklamationen und von der sogenannten öffentlichen Meinung, die doch nichts ist, als die Oberflächlichkeit derjenigen constitutionellen Schreier, die sich am unverschämtesten geltend zu machen wissen. Stüve war bei den Berliner Conferenzen in Vergleich mit Radowitz entschieden conservativ zu nennen. Ich würde in meinem Urtheil über R. weniger sicher sein, wenn es nicht durch das von sehr gescheuten Leuten bestätigt würde, welche ihn seit einem Menschenalter sehr genau kennen. Von diesem Manne hängen unsere Geschicke bisher noch vorzugsweise ab, und der König hängt an seinen persönlichen Freunden mit einer Zähigkeit, die keine Täuschung des Vertrauens erschüttert; z. B. Bunsen, von dem ihm die stärkste Untreue klar bewiesen worden ist.

    Im Ministerium ist Manteuffel der einzige zurechnungsfähige Mann [Am Rande steht noch der Satz: „Stockhausen Kriegsminister ist sehr gut, aber nur I.“]; ihm fehlt nur initiative Energie, er muß getrieben, beredet werden, und wird das, seit Ruhe im Lande ist, schwerer von unserer Seite als von der liberalen, am leichtesten von den Ereignissen, vom fait accompli; seine Hauptstärke ist Zähigkeit, wenn er sich einmal entschlossen hat, aber bei schlimmen Entschlüssen ebenso wie bei guten. Bei Euch sieht es nicht viel besser aus, und des alten Königs Nachgiebigkeit in den neusten Kämpfen mit Stüve betrübt mich tief. Wir gehen in Deutschland den Weg Frankreichs, und sind jetzt etwa bei 1836 oder 1837 angekommen; es muß uns noch sehr schlecht gehn, ehe es uns wieder gut gehn kann. Die Kinder sind nicht genug gebrannt, um das Feuer zu scheuen.

    Daß bei D. ... das Herz oder der Ehrgeiz mit dem klaren Kopf durchgehen würde, hätte ich nicht gedacht. Schade um ihn. Was treibt denn der Bulle, auch Zimmermann genannt? Der Hamster, der Kazike, der Jude? – Das Bild (ist ja wol in Amerika?), Chasseur und all die andern Leute, denen ich Brüderschaft für dieses Leben schwor? wie benimmt sich Perz in Politik? Oldekop habe ich einmal con moglie in einem Berliner Gasthof gesehen, wenn ich nicht irre in dänischen Kriegssachen reisend. –

    Ich bin in den letzten beiden Jahren wenig zu Hause gewesen; bis zum November 48 war ich meist in Potsdam, um einer ruchlosen Camarilla zu assistieren, dann in dem Kammerwesen, um zu sehn, wie 350 Leute über unser Vaterland beschließen, von denen kaum 50 wissen, was sie thun, und unter diesen wiederum wenigstens 30 ehrgeizige und gewissenlose Schurken, oder von Eitelkeit ausgehöhlte Comödianten. Jetzt bekümmere ich mich außer der Kammerzeit um Politik gar nicht, komme nicht nach Berlin, correspondiere mit Niemand, und werde das fortsetzen, bis französische Ereignisse den Schlamm wieder aufrühren, und der Hoffnung auf Besserung Raum geben. Dann wird auch bei Euch manches Galgenfutter, das jetzt in der Kammer das Maul aufreißt, den Platz finden, wo es hingehört. Die Elemente der Gesundheit sind bei uns noch vorhanden; das Offizierkorps und somit die Armee, gehört uns; der Grundbesitz darf nur aus seiner Trägheit aufgestört werden, sogar der Bauer hat doch soviel Einsicht gewonnen, daß er sich aus dem demokratischen Eldorado in vormärzliche Ruhe zurücksehnt. Die materielle Macht ist noch da, die Revolution steckt nur in unsern Beamten und dem angeblich gebildeten Mittelstande der größeren Städte, sie ist machtlos, sobald man dem Spuk dreist ins Gesicht leuchtet; und wenn es nicht geradezu Gottes Wille ist, daß unser Vaterland als solches untergeht, so werden wir den Brand ausschneiden, ehe es zu spät ist, sollte auch dabei das „Blut von der Kelter gehn bis an die Zäume der Pferde, durch tausend 6 hundert Feldwegs“. –

    Ich hoffe, daß Du weniger faul bist, wie ich, und feurige Kohlen auf mein Haupt sammelst, durch einen baldigen Brief; schreibst Du in den nächsten 14 Tagen, so adressiere nach Reinfeld bei Zuckers in Pommern, in den darauf folgenden 4 Wochen nach Stolpmünde in Pommern; Du machst mir eine große, wenn auch unverdiente Freude damit. Empfiehl mich unbekannter Weise Deiner Frau Gemalin und lebe wohl; unsere Wege werden uns doch irgendwo einmal wieder zusammen führen, wenn auch nicht in Wehnde, und dann will ich einige Flaschen Scharlachberger mit Dir trinken, alter Heiterkeit zu Ehren, noch lieber aber kalten Sect.

    Dein treuer Freund v. Bismarck.

    Esq. King schreibt mir mitunter; er ist Pflanzer und züchtet Neger, deren glückliche Zustände er mir lebhaft schildert, so’n Kerl; deutsch versteht er aber nicht mehr. Motley schreibt sehr beliebte Romane. Sei nachsichtig wegen der unlesbaren Handschrift; meine Frau hat hier nichts als Stahlfedern, mit denen kann ich nicht besser. – Hast Du nicht Zeit und Lust gelegentlich über Eure hannoverschen Zustände Correspondenzartikel für die Neue Preußische Zeitung zu schreiben? Du würdest der guten Sache einen Dienst dadurch erweisen, und wenn Du sie mir schicken willst, so besorge ich den Abdruck, ohne daß Du, wenn Du willst, irgendwie dabei genannt wirst.