Denkschrift über die deutsche Frage, Reinfeld, Oktober 1861


    So lange das Bündniß der drei östlichen Großmächte bestand, war die Aufgabe des Deutschen Bundes in der Hauptsache darauf beschränkt, das im Jahre 1815 gegen Frankreich und die Revolution errichtete Defensivsystem zu vervollständigen. Hinter dem Bunde stand die vereinigte Macht von Preußen, Oestreich und Rußland, und die Bundescontingente wurden für den Kriegsfall zwar als Zuwachs in Betracht gezogen, aber die Mängel ihrer Organisation, die Möglichkeit des Abfalls der einzelnen bei unglücklicher Kriegsführung fielen neben den massenhaften Streitkräften der drei großen Militärmächte der heiligen Allianz nicht entscheidend ins Gewicht.

    In der Anlehnung des Bundes an die drei östlichen Mächte fand Deutschland Bürgschaften des Friedens und der Sicherheit, über welche manche drückende Folgen der Zerrissenheit seines Gebietes vergessen werden konnten. Nachdem diese Bürgschaften mit der Auflösung der heiligen Allianz geschwunden sind, machen sich der Bevölkerung in verstärktem Maße alle die Uebelstände fühlbar, welche aus der unnatürlichen Mannigfaltigkeit der Landesgränzen im Innern Deutschlands hervorgehn und verstärkt werden durch die in früheren Zeiten unbekannte Höhe, auf welche das Souveränetätsbewußtsein der Einzelstaaten sich heut zu Tage gesteigert hat. In den kleinern Staaten ist das demüthigende Gefühl des Mangels an Würde und Sicherheit nach Außen und die Empfindung des Druckes vorherrschend, welchen die Beschränktheit der politischen Lebenskreise auf die Strebsameren und Befähigteren ihrer Angehörigen ausübt. Das preußische Volk dagegen fühlt die Ungerechtigkeit, welche darin liegt, daß Preußen, nachdem Oestreichs innere Zustände die Bereitschaft des Kais. Bundes-Contingentes für die Stunde der Gefahr als sehr zweifelhaft erscheinen lassen, mit den Kräften von 18 Millionen unter höchster Anspannung aller Kräfte für die Vertheidigung des Gebietes von mehr als 40 Millionen der Hauptsache nach einstehn soll, daß es dabei in seiner Gesammtheit kein stärkeres Recht am Bunde hat, als die kleinen Nachbarstaaten, die es schützt, durch die es aber im Frieden seine materielle Entwicklung beschränkt, seinen Verkehr eingeengt sieht und von denen es im Kriege, sobald er unglücklich verliefe, verlassen werden würde.

    In der gesammten deutschen Bevölkerung nährt und steigert sich das Mißvergnügen durch das niederschlagende Gefühl, daß eine große und kräftige Nation durch die Mängel ihrer Gesammtverfassung verurteilt ist, nicht nur auf die ihr gebührende Geltung in Europa zu verzichten, sondern in steter Sorge vor dem Angriff von Nachbarn zu leben, denen sie unter Umständen mehr als gewachsen sein würde. Je mehr dieses Gefühl und die Erkenntniß seiner Ursachen das allgemeine Bewußtsein durchdringen, um so schärfer und zuletzt gefährlicher kehrt sich seine Spitze gegen die Gesammtheit der deutschen Regirungen. Von den letztern wird erwartet, daß sie mit mehr practischem Erfolge als bisher dem Ziele einer engeren Einigung Deutschlands zustreben, und diese Erwartung erscheint auch der conservativsten Auffassung nicht unberechtigt, soweit es sich darum handelt, die Wehrkraft Deutschlands einheitlicher und straffer zusammenzufassen und der allgemeinen Wohlfahrt diejenige freie Bewegung im Gebiete aller materiellen Interessen zu sichern, welche für Handel und Verkehr durch den Zollverein angebahnt ist.

    Mit der jetzigen Bundesverfassung ist es nicht möglich, den bestehenden Uebelständen abzuhelfen. Die Gränzen, innerhalb deren der Bundestag durch Majoritäten beschließen kann, sind sehr eng, und außerhalb derselben würde selbst eine besser intentionirte Majorität als die jetzige durch den Widerspruch Einzelner gelähmt werden. Dänemark oder Luxemburg sind berechtigt, jeden Fortschritt zu hemmen. In Erkenntniß dieses Uebels wurde daher innerhalb der letzten zehn Jahre von der Coalition, in welche Oestreich mit den Mittelstaaten getreten war, vielfach versucht, in ihrem Interesse die Competenz der Majoritäts-Beschlüsse zu erweitern. Dieses Auskunftsmittel ist aber für Preußen in der jetzigen Bundesverfassung nicht annehmbar. Bei Erweiterung der Befugnisse der Majorität wäre das Veto gegen Majoritätsbeschlüsse, welches in den Händen eines zu selbständiger Politik nicht befähigten Kleinstaates oder im Besitz einer außerdeutschen Macht als Abnormität erscheint, für die Großmacht Preußen unentbehrlich. Preußen kann nicht in Deutschland die Rolle einer beherrschten Minorität übernehmen, wenn der Bundesbehörde wesentliche Attributionen der Militär- und Finanzgesetzgebung für Deutschland beigelegt würden. Dem Bundesstaate, welcher an Macht alle übrigen zusammengenommen aufwiegt, gebührt ein vorwiegender Einfluß auf die gemeinsamen Angelegenheiten, und seine Bevölkerung würde darauf nicht verzichten wollen.

    Eine andre Vertheilung der Stimmrechte am Bunde, eine stärkere Betheiligung der mächtigeren Mitglieder bietet immerhin nur ein unzulängliches Correctiv der bestehenden Mängel. Bei gerechter Vertheilung müßten beide Großmächte zusammen die geborne Majorität bilden, und nach der Bevölkerung und nach dem Machtverhältniß müßte Preußen allein mehr Stimmen haben als die Gesammtheit der übrigen rein deutschen Staaten (18 Million[en] gegen 17½). Abgesehn von dieser Schwierigkeit würde durch die mechanische Operation der Zählung der vertragsmäßigen Stimmen eine lebensfähige und am Tage der Gefahr haltbare Einigung schwerlich erreicht werden. Um einem solchen Ziele näherzutreten, ist vielleicht eine nationale Vertretung des deutschen Volkes bei der Bundes-Centralbehörde das einzige Bindemittel, welches den divergirenden Tendenzen dynastischer Sonderpolitik ein ausreichendes Gegengewicht zu geben vermag. Nachdem eine Volksvertretung, zum Theil mit sehr weitgehenden Befugnissen, in jedem deutschen Staate besteht, kann eine analoge Einrichtung für die Gesammtheit unmöglich an und für sich als eine revolutionäre angesehn werden.

    Die Form und die Competenz einer solchen Vertretung könnte nur durch eingehende Erwägung, durch Verständigung zwischen den Bundesstaaten festgestellt werden. Die weitesten Gränzen ihrer Wirksamkeit würden immer nur die Bestimmungen über die Wehrkraft des Bundes und die Zoll- und Handelsgesetzgebung mit dem Gebiete der verwandten materiellen Interessen umfassen, sodaß die Regirungsgewalt im Innern jedem Staate unverkümmert bliebe. Für die Intelligenz und die conservative Haltung einer solchen Vertretung würde es einige Bürgschaft gewähren, wenn ihre Mitglieder nicht direct von der Bevölkerung, sondern von den einzelnen Landtagen erwählt würden. Eine solche deutsche Gesammtvertretung dürfte zugleich mit einiger Sicherheit dahin führen, daß der bedauerlichen Tendenz der meisten deutschen Landtage, sich vorwiegend kleinlichen Reibungen mit der eignen Regirung zu widmen, eine heilsame Ableitung auf breitere und gemeinnützigere Bahnen gegeben würde und die subalternen Streitigkeiten der Ständesäle einer mehr staatsmännischen Behandlung deutscher Gesammtinteressen Platz machten. Das verfassungsmäßige Recht Preußens, einen dahin gerichteten Antrag in der Bundesversammlung zu stellen, ist ebenso unzweifelhaft als die Ablehnung desselben, zu welcher der Widerspruch jedes einzelnen Bundesstaates ausreichen würde.

    Die ehrliche Betheiligung Oestreichs an derartigen Einrichtungen würde selbst dann noch kaum ausführbar werden, wenn zwischen den deutschen und den nicht deutschen Provinzen des Kaiserstaates das Verhältniß einer bloßen Personalunion herzustellen wäre. Auch von den übrigen Bundesstaaten ist die Zustimmung mit der verfassungsmäßigen Stimmen-Einhelligkeit jedenfalls nicht zu erwarten, und der Bundestag in seiner jetzigen Zusammensetzung wäre kaum geeignet, um mit parlamentarischen Körperschaften zu verhandeln. Die practische Verwirklichung einer deutschen Nationalvertretung hat demnach auf dem bundesverfassungsmäßigen Wege bisher wenig Wahrscheinlichkeit und könnte nur mit einer Umgestaltung der Centralbehörde Hand in Hand gehn. Minder hoffnungslos wäre vielleicht das Bestreben, auf dem Wege, auf welchem der Zollverein entstand, die Herstellung anderweiter nationaler Einrichtungen zu bewirken.

    Ob und wie der Zollverein sich bei Ablauf der jetzigen Periode erneuern läßt, kann nur der Erfolg ausweisen. Wünschenswerth ist aber gewiß, daß er nicht in seiner jetzigen Verfassung fortbestehe, vermöge welcher das Widerspruchsrecht der Einzelnen jede Entwicklung unsrer Handelsgesetzgebung abschneidet. Auch hier dürfte, neben Einführung des Beschlußrechtes wenigstens einer Zweidrittel-Majorität, die Lösung der weitern Schwierigkeiten am leichtesten dadurch gefunden werden, daß Ausschüsse von mehr oder weniger starker Mitgliederzahl aus den Ständeversammlungen der einzelnen Staaten zusammentreten und durch ihre Beratungen und Beschlüsse die Meinungsverschiedenheiten der Regirungen auszugleichen suchen. Ein solches „Zollparlament“ kann unter Umständen und bei geschickter Leitung das Organ werden, auch auf anderen Gebieten Vereinbarungen anzubahnen, welchen deutsche Staaten umso leichter beizutreten geneigt wären, wenn sie stets kündbar bleiben. Die ersten Anfänge der Zollvereinigung mit Darmstadt sind kaum erheblicher gewesen, als es in ihrer Art die Militär-Conventionen mit Coburg-Gotha und andern ähnlich disponirten kleinen Staaten sein würden. Die Einwirkung der bestehenden parlamentarischen Körperschaften stellt in jetziger Zeit schnellere Fortschritte für nationale Bestrebungen der Art in Aussicht als vor dreißig Jahren, und äußre Ereignisse können förderlichen Einfluß üben. Als letztes, vielleicht spät erreichbares Ziel würden dabei gemeinschaftliche Heereseinrichtungen vorschweben, denen die gemeinschaftlichen Einnahmen aus den Zöllen und den verwandten Abgaben als Budget und eine gemeinsame Gesetzgebung für Handel und Verkehr als Ergänzung dienten, alles auf vertragsmäßiger und kündbarer Basis, unter Mitwirkung einer aus den Landtagen combinirten Volksvertretung. Ehe Preußen mit derartigen Bestrebungen außerhalb des Bundestages offen hervorträte, würde es sich jedenfalls empfehlen, ähnliche Reformen in Frankfurt auf bundesverfassungsmäßigem Wege zu beantragen. Der erste Schritt dazu wäre die offne und amtliche Erklärung, daß die bestehende Bundesverfassung sich nicht bewährt hat und eingreifender Umgestaltung bedarf. Daß dem so sei, wird allgemein erkannt, aber keine Bundesregirung hat es bisher amtlich ausgesprochen.

    Eine offizielle Erklärung Preußens, dahingehend: daß wir die jetzige Bundesverfassung den Bedürfnissen der Bundesgenossen und der deutschen Nation nicht entsprechend und der Reform für bedürftig halten, daß wir entschlossen sind, am Bunde Vorschläge für eine solche Reform zu machen, durch welche die Mitwirkung einer nationalen Vertretung in Aussicht genommen wird, daß wir die freie Einwilligung unsrer Mitverbündeten in unsre Anträge durch Verhandlung erstreben, und wenn wir sie sofort nicht erlangen, von der Zeit erwarten wollen in der Hoffnung, daß richtigere Ansichten sich Bahn brechen werden, daß wir, bis dieses Ziel erreicht sein werde, in freiwilligen und kündbaren Vereinigungen neben dem Bunde Surrogate für die fehlenden Bundesinstitutionen herzustellen suchen werden – eine derartige Erklärung würde als erster Schritt zu bessern Einrichtungen tiefen Eindruck in Deutschland machen und besonders der Regirung Preußens ihre Aufgabe im Innern, den Wahlen und den Kammern gegenüber wesentlich erleichtern. Die Fassung der Erklärung müßte auf die doppelte Wirkung berechnet sein, einmal, daß die deutschen Fürsten über die Tragweite unsrer Pläne beruhigt werden und erkennen, daß wir nicht auf Mediatisirung, sondern auf freie Verständigung zum Nutzen aller ausgehn, und zweitens, daß im Volke der entmuthigenden Besorgniß entgegengetreten wird, als fände Preußen den Gang der deutschen Entwicklung mit dem heutigen Bundestage abgeschlossen und strebe nicht ernstlich nach fortschreitender Reform desselben. Eine fertige Vorlage von Reformplänen, ein ausgearbeiteter Entwurf einer neuen Bundesverfassung erscheint erst dann Bedürfniß, wenn das Maß des Erreichbaren sich aus den Verhandlungen mit den andern Bundesregirungen erkennen läßt. Nur die Constatirung der Ansicht im Schoße der Bundesversammlung, daß die jetzigen Einrichtungen unzulänglich sind, daß wir nicht davor zurückschrecken, das Element einer National-Vertretung in die zukünftige Combination mit aufzunehmen, daß aber unsre Aenderungsvorschläge nicht über das Bedürfniß, das heißt nicht über das Gebiet der Militäreinrichtungen und der materiellen Interessen hinausgreifen werden, und daß wir, den Verträgen und dem Rechte treu bleibend, nur von der freien Entschließung unsrer Bundesgenossen die allmähliche Verwirklichung der Pläne erwarten, welche wir dem Interesse aller Betheiligten gleich förderlich und durch die gerechten Ansprüche des deutschen Volkes auf Sicherheit und Wohlfahrt für geboten erachten.

    Eine Anzeige in betreff der Militär-Convention mit Sr. H. dem Herzoge von Gotha [Ernst II.] würde einen zweckmäßigen Anknüpfungspunct für eine principielle Erklärung im obigen Sinne darbieten. Die Kgl. Regirung wird dann in der Lage sein, ihren Bundesgenossen von Neuem und in überzeugender Weise darzuthun, daß sie weder eigennützige Zwecke noch Umgestaltungen erstrebt, welche dem Recht und der Geschichte Deutschlands widersprechen, sondern daß sie in der Consolidirung der Wehrkraft des Bundes nur die Mittel sucht, den gesammten Rechtsbestand der deutschen Staaten gegen äußere Gefahren wirksamer zu schützen und daß sie diesen nach der Natur der Dinge ihr vorzugsweise obliegenden Beruf mit gleicher Treue für die Rechte ihrer Bundesgenossen wie für die eignen erfüllen wird.