Erlass, gerichtet an Heinrich Alexander von Redern, Berlin, 15. April 1865

    Das Gespräch, in welchem Seine Majestät der Kaiser mit Beziehung auf unsere Forderungen in der Schleswig-Holsteinischen Frage die augenblickliche Stellung Preußens zu Öfterreich berührte, hat zu den vorläufigen Bemerkungen meines Erlasses vom 5. d. M. (Nr. 58) Veranlassung gegeben. Eine vertrauliche Depesche des Fürsten Gortschakow vom 12./24. März d. J., von der Ew. pp. hier eine Abschrift finden, verbreitet sich in freundschaftlicher Weise über den Wunsch des russischen Kabinetts, die hervorragende Stellung, welche Preußen in Deutschland einnimmt, mit ihrem ganzen Gewicht und ihrem ganzen Glanze – durch das Vertrauen der deutschen Mittelstaaten erhalten und gesichert zu sehen. Die Depesche bietet mir eine willkommene Gelegenheit zu einigen aufklärenden Worten über diesen Punkt.

    Das Bild, in welchem die inneren Verhältnisse Deutschlands sich dem Blicke des Fürsten Gortschakow darstellen, entspricht leider der Wirklichkeit nicht, wie sie sich mir in meiner langjährigen Stellung am Bunde und als Minister der auswärtigen Angelegenheiten aufgedrängt hat.

    Allerdings ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß Preußen, um mich des Ausdrucks des Fürsten zu bedienen, der „Kitt“ im Bundesverhältnisse gewesen und noch ist. Aber nicht mittels des „Vertrauens“ seiner Bundesgenossen, sondern dadurch, daß es den größten Teil seiner Staatskraft zu Erreichung der Bundeszwecke eingesetzt hat, oftmals sehr gegen das Vertrauen und gegen den Willen dieser Bundesgenossen.

    Im Jahre 1840 ergriff Preußen die Initiative für die Verteidigung des in sehr wenig kriegsfähigem Zustande befindlichen Deutschlands und mußte mit seiner ganzen Armee in Bereitschaft sein, um ihm den notwendigen Halt und Schutz zu verschaffen. Im Jahre 1848/49 war es in eminentester Weise der „Kitt“ für die Erhaltung der Fürstenthrone in mehreren deutschen Mittelstaaten und für die Herstellung geordneter Zustände in ganz Deutschland. Sein ganzer Einfluß war im Jahre 1854 nötig, um Österreichs Einwirkung zu Gunsten des westmächtlichen Bündnisses bei den Mittelstaaten zu neutralisieren. Im Jahre 1859 gelang es Preußens Anstrengungen, den italienischen Krieg zu lokalisieren, und 1863 würde ohne die feste Haltung der Königlichen Regierung das politische Gewicht des Bundes unter Österreichs Führung in die Wagschale der polnischen Revolution gefallen sein, welcher in vielen deutschen Klein- und Mittelstaaten nicht bloß die Sympathien der liberalen und radikalen Parteien, sondern auch diejenigen der gouvernementalen Kreise, namentlich in Dresden, sich zugewandt hatten.

    In allen vorerwähnten Fällen war die Grundlage der von Preußen geübten Wirkung nicht in der Dankbarkeit und dem Vertrauen seiner Bundesgenossen, sondern in dem eigenen Machtverhältnisse und in der Entschiedenheit zu suchen, mit welcher die Königliche Regierung dasselbe geltend machte. Wie wenig Dank und anerkennendes Vertrauen wir selbst von den direkt von uns unterstützten oder geradezu aus der Revolution geretteten Bundesgenossen geerntet haben, ist nur zu bekannt. Fünfzig Jahre hindurch haben Preußens Leistungen für die idealen Ziele des Bundes die eigene Staatskraft absorbiert, während die mittel- und kleinstaatlichen Genossen des Bundes diese Hingebung in eigensüchtiger Weise ausnutzten. Sie sparten und sparen in ihren Militärbudgets, vernachlässigen die eigene Wehrkraft und die Leistungen an den Bund im Vertrauen auf die preußische Armee und hindern, um sich die Vorteile geringer Ausgaben zu bewahren, jede Verbesserung der Bundesmilitärorganisation. Sie nehmen sogar in unsern innern Kämpfen um die Reorganisation der Preuß[ischen] Armee Partei auf Seiten der Opposition, obwohl sie wissen, daß auf dieser Armee und ihrer wirkungsvollen Aktion im entscheidenden Momente die eigentliche Garantie ihrer staatlichen Existenz beruht.

    Es sind vorzugsweise die Mittelstaaten, welche das Bundesverhältnis zu einem ihm fremden Zweck mißbrauchten; denn sie machen den Bund, der ihnen vermöge der Macht Preußens u[nd] Oestreichs Schutz gewährt, zum Werkzeug eines politischen Ehrgeizes, welchem die eigenen Machtverhältnisse nicht genügen, und zum Tummelplatz der politischen Intrigen.

    Infolge dieser Erscheinungen ist das Bundesverhältnis mit seinen Einrichtungen für Preußen im Frieden eine drückende Last und im Kriege mehr eine gefährliche Fessel als eine Stütze. Wohl wissen wir, daß Preußen dem Bunde wiederholt Schutz und Halt gewährt hat, wir sehen uns aber vergeblich nach einer Gegenleistung um. Unser Vertrauen auf das Zusammenhalten des Bundes reicht nicht weiter als unsere Macht zu diesem Zwecke, und wir können uns darüber nicht täuschen, daß es keinen unzuverlässigeren Bundesgenossen für Preußen geben würde, im Falle unsere eigene Macht zum Wanken käme, als die deutschen Mittelstaaten. In einem solchen Unglücksfalle würden dieselben aus ihrem gewöhnlichen Schaukelsystem zwischen Berlin und Wien heraustreten und sich nach Westen neigen, sobald ihr particularer Vortheil es rathsam macht.

    Es wäre für uns ein Irrtum, der sich schwer strafen würde, durch das Aufgeben preußischer Interessen ein meist nur vorgeschütztes, immer aber unbegründetes Mißtrauen der Mittelstaaten gegen uns entwaffnen und deren guten Willen und Vertrauen erwerben zu wollen, wie es die Depesche des Fürsten Gortschakow mit Beziehung auf die Schleswig-Holsteinsche Frage andeutet.

    Erfahrungsgemäß war das Vertrauen und der gute Wille der Mittelstaaten für uns niemals vorhanden. Die hochherzigsten Gesinnungen, welche unsere Monarchen Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV. und Seine Majestät der König in Deutschland betätigt haben, sind an diesem Zustande wirkungslos vorübergegangen. Preußen hat daher nie außer acht lassen dürfen, daß es im Notfall in der Lage sein müsse, des Beistandes dieser Bundesgenossen entraten zu können. Auch hat sich in der Tat bei der ungünstigen Lage der Militärorganisation des Bundes in entscheidenden Momenten bereits die Ansicht geltend gemacht, daß solcher Beistand unter Umständen unserer Aktion eher nachteilig als förderlich sein könnte.

    Wir sind durch Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, daß kein Zugeständnis irgendeiner Art in dem mißtrauischen Verhalten der Mittelstaaten zu uns etwas ändern werde. Andererseits ist es uns unmöglich, der Haltung der Mehrzahl dieser Staaten, welche sich in der inneren Politik der bedenklichsten Richtung hingeben, irgendein Vertrauen entgegenzutragen. Ihre augenblickliche Stellung bietet folgendes Schauspiel dar. Überall findet sich neben der Überschätzung der Leistungsfähigkeit die volle Hingebung an die Entwickelung der revolutionären Elemente, welche in den Ständekammern, in Abgeordnetentagen, Volksvereinen, Wohlfahrtsausschüssen und dergl. mehr unter der Maske deutsch-nationaler oder liberaler Bestrebungen auftreten. Die Schleswig-Holsteinsche Frage hat diese revolutionären Elemente vorzugsweise in Fluß gesetzt.

    Während der Ehrgeiz mittelstaatlicher Minister ihren theoretischen Operationen für eine großartige Politik nach außen die Idee einer Konföderation von 40 oder 70 Millionen zugrunde legt und durch den Bund über die beiden Großmächte zu verfügen meint, bedienen dieselben sich zugleich des Hebels der national-revolutionären Bewegung in Deutschland zu ihren politischen Partikularzwecken, insbesondere gegen Preußen.

    Der befähigte mittelstaatliche Staatsmann glaubt ohne Gefahr an der Spitze solcher liberal-nationaler Bestrebungen einherschreiten zu können. So benutzte Herr von Beust den Verkehr mit ihren Organen bekanntlich während seiner diplomatischen Mission auf der Londoner Konferenz. Derselbe Staatsmann hat es nicht verschmäht, schon vor zwei Jahren der revolutionären Turnerdemonstration durch offizielle Reden seine amtliche Sanktion zu geben. Er hat in derselben Richtung, in welcher er liberalen Bestrebungen nachhaltig zu huldigen beginnt, soeben die auf Bundesbeschlüssen beruhenden Beschränkungen des Preß- und Vereinswesens in Sachsen aufgehoben, nicht ohne Rücksicht auf revolutionäre „national-deutsche“ Demonstrationen, die in einer aus ganz Deutschland zu beschickenden Sängerversammlung in Leipzig bevorstehen. Seine Stellung zur polnischen Revolution dürfte der russischen Regirung aus den Berichten ihres Vertreters in Dresden bekannt sein. Herr von Beust macht aus dieser politischen Tendenz auch kein Hehl. Er hat sich über deren Motive offen ausgesprochen und, wie wir zuverlässig wissen, fremden Diplomaten gegenüber erklärt, daß in der Gegenwart der Liberalismus und Nationalismus von seiten der Mittelstaaten als Alliierte gegen die drohenden Übergriffe Preußens in Anspruch genommen werden müßten. Es ist dieß ein frivoler Vorwand für den Ehrgeiz, dessen Befriedigung er durch die Mittel der gesammtdeutschen Demokratie erstrebt, nachdem er sie in der Stellung eines Ministers des K[onig]r[ei]chs Sachsen nicht findet. Er scheint dabei die Gefahren nicht zu fürchten, an welche doch eine nicht allzusehr zurückliegende Vergangenheit gerade in Sachsen erinnern sollte.

    Minder befähigte mittelstaatliche Staatsmänner befinden sich mit dem Gefühle gleicher Sicherheit im Schlepptau der demokratischen Kammermehrheiten, welche natürliche Gegner jeder konservativen Regierung sind. Bei allen diesen Staatsmännern wird man keinem Vorurteile dagegen begegnen, sich im Falle hereinbrechender Katastrophen mit den übelsten Elementen in Deutschland und mit dessen eventuellem Gegner zu verbinden. Hindeutungen auf einzelne deutsche Staaten am Mittelrhein zum Belege für diese Auffassung dürften kaum nötig sein. Die Vereinigung solcher staatlichen Elemente im Bundesverhältnisse kann dieses selbst für Preußen eben nicht als Glück erscheinen lassen. Es flößt uns unter den gegenwärtigen Umständen und nach den gemachten Erfahrungen wenig Vertrauen für den Fall eines Krieges ein und bildet für jeden tiefer Blickenden eine Schwächung, nicht aber eine Stärkung des monarchischen Prinzips. Bei der durchgreifenden Herrschaft des Parlamentarismus in den Klein- und Mittelstaaten vertritt die Bundesversammlung in ihren Majoritäten nur die kleinstaatlichen borniert demokratischen Parlamentsmehrheiten. Diese Lage des Bundes kann zwar mittelstaatlichen Ministern ein persönliches Relief und Gelegenheit zu großer Politik geben, sie bietet aber keine Bürgschaft für eine Wirksamkeit im Interesse der großen konservativen Prinzipien, keine für die Erhaltung und Konsolidation des Friedens in den mitteleuropäischen Verhältnissen. Wir werden nichtsdestoweniger nicht unseres Vorteils, aber unserer Ehre wegen an der Vertragstreue festhalten, so lange uns die Bundesverträge gehalten werden, und für jene großen Prinzipien nach wie vor mit eigner Kraft einstehen.
    Wenn aber Fürst Gortschakow den in meiner langjährigen Wirksamkeit in den deutschen Angelegenheiten gemachten Erfahrungen, auf welchen obige Andeutungen beruhen, einiges Gewicht beilegt, so dürfte vielleicht auch bei ihm die Ansicht Billigung finden, daß die derzeitige Überhebung der Mittelstaaten und die Überschätzung ihres Wertes von seiten des Auslandes einen der bedenklichsten Punkte der gegenwärtigen Krisis in Deutschland bilden. Der Herr Minister wird sich der Erwägung nicht verschließen, daß, wo so widerstrebende Richtungen auch in der inneren Politik dieser Staaten Preußen entgegentreten und uns im eigenen Lande Schwierigkeiten bereiten, das Werben um den guten Willen und das Vertrauen dieser Staaten nicht der Weg sein kann, auf welchem wir die monarchischen Interessen bei uns u[nd] im übrigen Deutschland zu schützen vermögen.

    Während ein konservatives Ministerium in Preußen die Sache aller deutschen Fürsten im Kampfe der Monarchie gegen die Revolution seit zwei Jahren mit sichtbarem Erfolge geführt und damit die Regierungsgewalt auch in den Mittelstaaten auf das unzweifelhafteste gestärkt hat, benutzen eben diese Staaten gerade diese Stärkung, um in der illoyalsten Weise dieselben Elemente (national-liberale und radikale) gegen Preußens konservative Regierung zu entfesseln und letzterer nach Kräften den Kampf im eigenen Lande zu erschweren. Ihr Ziel ist, den Staat, welcher ihr Schutz und Schirm in stürmischen Zeiten gewesen, und auf den sie in solchen Gefahren im Grunde immer noch hoffen, in seiner inneren wie in seiner äußeren Politik durch liberal-„nationale“ Agitationen zu hemmen und zu schädigen. Mit solchen Staaten können wir unmöglich auf die Basis vertrauensvoller Verständigung treten, wenn wir nicht unser großes Ziel, die konservativen Interessen zu fördern, preisgeben wollen.

    Es gibt übrigens unter den Mittelstaaten rühmliche Ausnahmen, die unseren Bestrebungen sich anschließen, solche wo der partikulare Ehrgeiz in der gegenwärtige Krisis in richtiger Würdigung der preußischen, dem gesamten Deutschland heilsamen Ziele in anerkennenswerter Weise zurückgetreten ist. Ein hervorragendes Beispiel unter diesen bietet Mecklenburg. Bei aller Entschiedenheit, mit welcher die Großherzoglichen Regierungen ihre Selbständigkeit in allen eigentümlichen Interessen des Landes Preußen gegenüber wahrzunehmen wußten, so daß sie den Anschluß an den Zollverein und auch sonstige nähere Beziehungen zu uns in Fragen des Verkehrs und der inneren Gesetzgebung beharrlich abgelehnt haben, sind sie doch rückhaltlos als Verbündete Preußens da aufgetreten, wo es sich um die Vertretung der großen konservativen Prinzipien handelte, u[nd] fühlen sich deshalb von jeder Besorgniß vor Preußischem] Ehrgeiz ebenso frei, als Preußen jedes Bedürfniß, seine politischen] Beziehungen zu Mecklenburg zu ändern, fern liegt.

    Wollten wir der konservativen Richtung unserer inneren Politik, welche uns neben der Befriedigung des sehr regen preußischen Nationalgefühls auch bei der Behandlung der Schleswig-Holsteinschen Frage durchweg leitet, untreu werden, so würden wir die revolutionären Waffen unserer mittelstaatlichen Gegner mit weit mehr Erfolg gegen sie selbst wenden können, als es ihnen gegen uns gelungen ist. Es widerspricht aber jedes Abweichen von dem von uns betretenen Wege den allerhöchsten Intentionen Seiner Majestät des Königs. Zur Festhaltung der bisherigen Politik und dem damit zusammenhängenden Bestände des konservativen Ministeriums in Preußen gehört daher, daß auch von seiten der anderen deutschen Staaten eine analoge Richtung eingeschlagen werde. Wir vermögen nur mit ihnen zu gehen, wenn sie konservativer werden. Im entgegengesetzten Falle müssen wir uns unabhängig von ihnen bewegen und können in unserer Aktion in den inneren wie in den äußeren Fragen keine Rücksicht auf sie nehmen.

    Ew. pp will ich schließlich kein Hehl daraus machen, daß, was die spezielle Stellung des Königlichen Ministeriums zur Schleswig-Holsteinischen Frage betrifft, sein Fortbestand mit jeder Entwicklung und Lösung derselben unverträglich wäre, welche eine Verletzung des preußischen Nationalgefühls in sich schlösse.

    Ich ersuche Ew. pp. Ergebenst, sich nach Maßgabe dieses Erlasses eingehend gegen Fürst Gortschakow äußern und unseren Standpunkt in allen berührten Einzelheiten danach erörtern zu wollen.
    Zu einer anderen Form der Mitteilung ist dieser Erlaß nicht bestimmt.