Diktat, Varzin, 9. Dezember 1876

    Der Brief des Kaisers Alexander vom 2. d. M. [Alexander II. forderte Wilhelm I. auf, das russische Engagement auf dem Balkan im Interesse Europas zu unterstützen] ist ein für so wichtige Verhältnisse ziemlich unklares und in sich widerspruchsvolles Aktenstück; der richtige Ausdruck des seit Monaten uns gegenüber vom Fürsten Gortschakoff ins Werk gesetzten Versuches das politische Gewicht Deutschlands für unausgesprochene russische Zwecke zu gewinnen und uns zu bewegen einen Wechsel in blanque [leer, unbeschrieben] zu zeichnen, den Rußland ausfüllen und Oesterreich wie England gegenüber verwerthen oder doch benutzen will. Schon die Analogie der Ausdrucksweise mit dem eigenhändigen Briefe Gortschakoffs an mich läßt vermuten, daß letzterer es ist, dem die kaiserliche Feder sich zur Verfügung gestellt hat.

    Beide Aktenstücke cumuliren in dem Bestreben, „Europa“ als eine einheitliche Macht, als eine Art Bundesstaat hinzustellen, dessen Interessen Rußland opferwillig zu vertreten bereit ist, so daß es danach in unserem Interesse als Europäer läge, die übrigen Europäer zu bewegen, daß sie nicht nur an Rußlands Uneigennützigkeit glauben sondern sich auch entschließen, die russischen Pläne durch ein europäisches Commissorium zu decken. Dieser unhaltbaren und für uns sehr nachteiligen Fiction bestimmt entgegenzutreten halte ich für unsere nächste unabweisliche Aufgabe, aber auch für die einzige, in welcher wir meines Erachtens von Rußland dissentiren müssen. Für die orientalischen Verhältnisse und für die Beziehungen Rußlands zu den Hauptconcurrenten Oesterreich und England ist dieser Dissensus [Widerspruch] ein rein theoretischer, für unsere eigenen Interessen aber ein eminent praktischer.

    Ich habe das Wort „Europa“ immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten; so die Westmächte im Krimkriege und in der polnischen Frage von 1863, so Thiers im Herbst 1870 und Graf Beust, als er das Mißlingen seiner Coalitions-Versuche gegen uns mit dem Worte ausdrückte, „je ne vois plus l’Europe“ [ich sehe Europa nicht mehr]. Im vorliegenden Falle versuchen Rußland sowohl wie England abwechselnd uns als Europäer vor den Wagen ihrer Politik zu spannen, den zu ziehen wir als Deutsche, wie sie selbst wohl einsehen, keinen Beruf haben. Ich bin weit entfernt von der Behauptung, daß wir als Christen nicht ein Interesse für leidende Menschen überhaupt, und namentlich für leidende Christen auch in fremden Ländern haben sollten und ich glaube, wir haben dasselbe in der ganzen bisherigen Politik Sr. Majestät des Kaisers auf das Unzweideutigste bethätigt, aber wir müssen uns dagegen verwahren, daß diese Sympathie uns verpflichte, überall da, wo wir sie hegen, Deutschlands Macht, seinen Frieden und seine europäischen Beziehungen einzusetzen, und zwar nicht nach eigenem Ermessen, sondern nach dem auswärtiger, uns zwar befreundeter, aber in der Sache wesentlich interessirter Mächte, wie England und Rußland.

    Es ist ferner ein wesentlicher Unterschied für uns, ob wir das, was wir etwa außerhalb unserer eigenen Interessen tun, in der Eigenschaft einer uns als „Europäern“ obliegenden Verpflichtung thun, für deren Erfüllung uns niemand Dank schuldig ist, oder ob wir es thun aus Gefälligkeit für eine befreundete Macht, bei der wir auf Gegenseitigkeit zu zählen haben. Aus dem letzteren Gesichtspunkte können wir wahrscheinlich viele, wenn nicht die meisten der Anliegen erfüllen, die Rußland vernünftigerweise bei uns anbringen kann. Wir werden dabei, so lange die Ansprüche das Maß inne halten, welches eigene Interessen uns vorschreiben, nicht nur eine Pflicht der Dankbarkeit und der kaiserlichen Freundschaft erfüllen, sondern auch unser Verhältniß zu dem bisher nützlichsten und in Zukunft vielleicht wichtigsten und seinen inneren Verhältnissen nach relativ zuverlässigsten unserer Bundesgenossen vor tiefgehender und dauernder Trübung bewahren.

    Rußland beabsichtigt, wie wir glauben müssen, Krieg gegen die Türkei zu führen; dabei können wir ihm den besten Erfolg wünschen und eine wohlwollende Neutralität beobachten. Der Kaiser Alexander hat sich, wie er sagt und wie Gortschakoff bestätigt, mit dem Kaiser Franz Joseph verständigt; die Frage, was wir zu thun haben, wenn diese Verständigung unzulänglich werden sollte, ist uns also für jetzt nicht gestellt, und von uns nicht zu beantworten. Der Wunsch des kaiserlichen Briefes geht für jetzt nur dahin, daß wir den Einfluß Deutschlands anwenden „pour désarmer les méfiances, contenir les hostilités“ [Misstrauen abzubauen, Feindseligkeiten zu unterdrücken], und daß Seine Majestät der Kaiser „se porte garant du désintéressement“ [als Garant der Uneigennützigkeit auftreten] des Kaisers Alexander. Das Wort garant ist dabei natürlich nicht im juristischen, internationalen Sinne zu nehmen, wie etwa ein Garant des westphälischen Friedens; denn man kann jemandes Gesinnung in diesem Sinne ja nicht unter Garantie stellen, da ihr Nichtvorhandensein ja niemals nachgewiesen werden kann; das désinteréssement des Kaisers kann in diesem Augenblicke noch so groß sein et peut cependant être débordé par les événements [und kann von Ereignissen überwältigt werden], ohne daß dadurch die persönliche Gesinnung des Kaisers Alexander irgend eine Änderung erlitten hätte.

    Es kann also dieser Anspruch des kaiserlichen Briefes nur so gemeint sein, und wir müssen ihn jedenfalls als selbstverständlich so auslegen, daß unser Allergnädigster Herr Seine Überzeugung von der Uneigennützigkeit des Kaisers Alexander ausspricht und dabei empfiehlt „qu’on Le laisse agir“ [ihn handeln zu lassen]. Unser Kaiser würde damit sicher nichts Unwahres sagen, da Seine Majestät den schriftlichen Versicherungen des Kaisers Alexander ohne Zweifel Glauben schenkt; auch würde nichts gesagt sein, was unsere Interessen gefährdet, denn wenn der Kaiser Alexander gegen die Türkei Krieg führt, so ist das für uns kein Unglück, und wenn man ihn ohne Einmischung handeln läßt, so ist das ein Vortheil für den allgemeinen Frieden.

    Ob unsere Versicherung über Kaiser Alexanders Uneigennützigkeit in England Glauben findet, hängt freilich nicht von uns ab, aber unsere Beziehungen zu England können vernünftigerweise dadurch nicht geschädigt werden, daß wir in London unseren Glauben an die Aufrichtigkeit der Versicherungen des Kaisers Alexander aussprechen. Es ist das meiner Überzeugung nach sogar das Einzige, was wir augenblicklich versuchen können, um den künftigen Möglichkeiten einer weiteren Ausdehnung des wahrscheinlich unvermeidlichen russisch-türkischen Krieges vorzubeugen. Es ist ja möglich, daß die Türken auf der Conferenz ebenso wie kürzlich bei dem Ultimatum eine ganz unerwartete Nachgiebigkeit gegen russische Forderungen zeigen, und daß dadurch die Spannung zwischen der Pforte und Rußland gemildert, diejenige zwischen Rußland und den bisher türkenfreundlichen Mächten gesteigert würde, aber es ist das doch sehr unwahrscheinlich, und wenn es geschähe, so würde die Kriegsgefahr nur in bedenklicher Weise weiter westlich gerückt.

    Geschieht es aber nicht – und das ist wohl das Wahrscheinliche – dann hat Rußland sich durch seine bisherige Politik meines Erachtens in die Notwendigkeit gesetzt, Krieg zu führen und kann ihn nur unter sehr nachtheiligen Rückwirkungen auf seine inneren Verhältnisse vermeiden. So wie die Situation jetzt liegt, halte ich es für uns für eine unmögliche, und wenn sie durchführbar wäre, im gefährlichsten Maße undankbare Aufgabe, Rußland durch deutschen Einfluß am Vorgehen gegen die Türken hindern zu wollen. Wir würden dabei, wenn es uns gelänge, einfach den Türken die russische Feindschaft abnehmen, um sie auf uns selbst zu übertragen und die ganze Verbitterung, welche dieser mißlungene Anlauf in dem russischen Nationalgefühl zurücklassen müßte, würde sich in concentrirter Form gegen uns richten.

    Ich habe mich über dieses Thema schon vor einigen Wochen bei Gelegenheit des sechsmonatlichen Waffenstillstandes ausgesprochen, und kann Seine Majestät den Kaiser nicht dringend genug bitten, jeden, auch den scheinbar freundlichsten und unverfänglichsten Versuch in dieser Richtung zu unterlassen. Die Situation ist so gespannt, daß die Grenze zwischen freundlicher Abmahnung und verdeckter Drohung sich garnicht ziehen läßt; das beweiset unter andern der Eindruck, ich möchte sagen die Beklemmung, die schon die wahre oder falsche Nachricht von unserem Bedauern über die Ablehnung des 6monatlichen Waffenstillstandes in Livadia verursacht hat. Überlassen wir es England und eventuell Oesterreich, ihre eigenen Kastanien auch selbst aus dem Feuer zu holen, und nehmen wir nicht die Sorgen anderer Mächte noch auf uns – wir werden an den eigenen vollständig genug haben.

    So lange die russischen Wünsche aus der phrasenhaften Allgemeinheit, in welche sie sich bisher hüllen, nicht heraustreten, wird uns auch die Beantwortung derselben dadurch erleichtert, daß sie sich in derselben Allgemeinheit bewegen kann. Ich würde glauben, daß es etwa in folgender Richtung thunlich wäre: Seine Majestät könnten ihr Bedauern aussprechen, im Interesse des Europäischen Friedens nämlich, daß die diplomatischen Arbeiten einen befriedigenden Erfolg bisher nicht gehabt hätten, aber die Hoffnung hinzufügen, daß auf den Conferenzen in Constantinopel eine allseitige Verständigung noch gewonnen werden könne, und im Interesse der Christen in der Türkei den Wunsch wiederholen, daß es der Fall sein möge. Wenn wider Erwarten weitere Schwierigkeiten sich in den Verhandlungen herausstellen sollten, so würde der Kaiser Alexander gewiß in erster Linie den Rath seiner eigenen friedlichen Gesinnung erwägen, wenn aber die Stellung Rußlands ihm nicht gestatte, derselben Gehör zu geben, so würde die Haltung Seiner Majestät den Traditionen und den freundschaftlichen Gesinnungen, welche beide Kaiser verbinden, auch dann entsprechen, und dies Sr. Majestät besonders dadurch erleichtert werden, daß der Kaiser Alexander sich mit Oesterreich schon verständigt habe – und Seine Majestät werde mit Interesse die Mittheilung über die Details der Verständigung seiner beiden Bundesgenossen entgegennehmen, welche der Brief in Aussicht stelle. Seine Majestät werde nur den Regungen des eignen Herzens folgen in dem Bestreben, jedes Mißtrauen gegen die Absichten des Kaisers Alexander zu beruhigen und die anderen Mächte für die Erhaltung des allgemeinen Friedens zu gewinnen – hoffe um so mehr auf Erfolg dieser Bemühungen, als Seine Majestät selbst das vollste Vertrauen in die Uneigennützigkeit des Kaisers Alexander setze, und in seinen Bestrebungen, dieses Vertrauen auch bei den anderen Mächten zu erhalten und zu befestigen nur der eigenen Überzeugung Ausdruck zu geben habe.

    Dies ist ungefähr der Ideengang, den ich Seiner Majestät dem Kaiser vorschlagen möchte, in der Hauptsache eine Paraphrase des russischen Briefes, aber natürlich ohne dessen Wortlaut zu wiederholen. Alle Erläuterungen und Suggestionen, welche man aus Gortschakoffs Unterhaltungen mit Schweinitz zu dem kaiserlichen Briefe entnehmen könnte, würde ich einstweilen vollständig ignorieren, und für Seine Majestät sind sie ja auch als non avenues [nichtig] zu betrachten, da der Kaiser nur den Text des kaiserlichen Briefes, aber nicht die Insinuationen der Gortschakoff’schen Corollarien zum Gegenstande seiner Beantwortung zu machen hat.

    Wenn der russische kaiserliche Brief einmal die Arbeit der Diplomatie mit der Würde der Cabinette nicht länger verträglich findet, und auf eine „solution moins radicale“ [weniger radikale Lösung], auf die Verlängerung der Existenz des ottomanischen Reiches verzichtet, und dann wieder von uns erwartet, daß wir Versuche zur Störung des allgemeinen Friedens hindern, und am Schlusse hofft „que la paix générale sera préservée“ [dass der allgemeine Frieden bewahrt bleibe] ungeachtet des vorausgesetzten Unterganges des türkischen Reiches; wenn er sagt, daß Werder uns den geheimen Vertrag bringen werde, an des Kaisers Diskretion darüber appellirt, die Mittheilung aber dennoch nicht macht; wenn er auf den appui amical [freundschaftliche Unterstützung] Sr. Majestät rechnet, aber die Pläne nicht bezeichnet, welche unterstützt werden sollen, so sind das alles Widersprüche, die in einem freundschaftlichen Kaiserbriefe nicht hervorzuheben sein werden. Die Allgemeinheit der ausgedrückten Wünsche bietet ausreichende Anknüpfung um den Brief so freundlich beantworten zu können, daß aus keinem seiner Theile ein Schluß auf andere als wohlwollende Gesinnungen gezogen werden kann, und wir dennoch kein Material liefern, mit dem man in Wien oder London Unkraut säen könnte. Der einzige Dissensus, die Ablehnung der „europäischen Interessen und Pflichten“, wird sich durch Hervorhebung der russischen Interessen, die den Kaiser zu einer selbständigen Entschließung veranlassen könnten, ausreichend markiren lassen. Scheint das demnächst im Texte nicht genügend, so wird sich leicht eine Wendung einschieben lassen, welche neben der diplomatisch von uns bethätigten Theilnahme für die Christen zugleich die Abwesenheit direkter deutscher Interessen accentuirt, und es natürlich findet, daß der Kaiser Alexander zunächst die Verständigung mit dem gleichfalls näher interessierten Monarchen von Oesterreich-Ungarn vorbereitet habe.

    In meiner Antwort an Gortschakoff habe ich die Absicht, der gewohnten Tonart unseres Verkehrs entsprechend, dem Gedanken Ausdruck zu geben, daß die europäische Seite der Sache auf meine politischen Entschließungen und Ratschläge weniger Einfluß habe, als gerade die russische: es würde mir stets zur Freude gereichen, russischen Interessen nützlich sein zu können, um dankbaren Erinnerungen Ausdruck zu geben, welche mich wohl an Rußland, aber in keiner Weise an das übrige Europa knüpften. Amtlich aber müssen wir uns diese Spiegelfechterei mit dem Europäerthum ernsthafter vom Leibe halten. Es kann das demnächst in Antworten an Schweinitz geschehen, ohne mündlichen und widerspruchsvollen Äußerungen meines russischen Freundes und Collegen in jeder Einzelheit amtliche Schwerkraft beizulegen.