Brief an Julius von Rechenberg, Berlin, 8. Mai 1883

     

    Die ergebenst hier beigefügten Schriftstücke sind mir durch Vermittelung des K[ai]s[er]l[ichen]. Botschafters in St. Petersburg zugegangen. Sie betreffen die Bewegung deutscher Colonisten in dem vormaligen Königreich Polen und im Gouvernement Volhynien und sind in dem Regierungsboten vom 6. April/25. März d. J. zum Theil auf Grund von Mittheilungen veröffentlicht, die sich in der Warschauer Gouvernements Zeitung zusammengestellt finden. Die Zeitung „Ruß“ des Herrn Aksakow reproduzirt den Artikel.

    Im Allgemeinen bemerke ich, daß wir an der Ausbreitung deutscher Colonien in Polen nicht das russischerseits vorausgesetzte Interesse haben. Richtig ist ohne Zweifel, daß die Steigerung des Bodenwerths den Betheiligten und der Russischen Regierung zu Gute kommt. Das Deutsche Reich gewinnt aber durch jene Auswanderungen nichts als einen erheblichen Verlust an Arbeitskraft und an baarem Vermögen. Deutsche, welche nach Polen auswandern, um sich dort seßhaft zu machen, kehren, nachdem sie zu Wohlstand gelangt, nicht in die Heimath zurück, wie dies zuweilen bei Auswanderern nach Amerika der Fall ist; sie werden früher oder später Polen und russische Unterthanen und ihr Fleiß, ihr Wohlstand, mehrt nur die Steuerkraft und den wirthschaftlichen Reichthum Rußlands. Daß sie ihre Beziehungen zu Deutschland bewahren, geschieht wohl, um durch die Botschaft oder die Konsulate diplomatischen Schutz zu haben, so lange als ihnen dies russischerseits gestattet wird. Meines Wissens ist das einzige Band, das sie während der Dauer ihrer Reichsbehörigkeit an die Heimath knüpft, gelegentlich die Militärdienstpflicht; ihre Steuern kommen Rußland zu Gute und auch die Wehrpflicht ist für uns von zweifelhaftem, jedenfalls nur von spärlichem Nutzen.
    Ew. pp. haben Sich bisher nicht veranlaßt gesehen, diese Auswanderer-Bewegung zum Gegenstande Ihrer Berichterstattung zu machen und ich nehme daher Anlaß, Sie um Auskunft, insbesondere über die von Herrn Aksakow aufgeworfenen Fragen zu ersuchen. Namentlich ist es mir erwünscht, davon unterrichtet zu werden:
    Aus welchen deutschen Distrikten stammen jene Auswanderer her?

    Haben sie die Heimath verlassen, nach zuvoriger Lösung ihres Unterthanenverbandes oder nicht?

    Welcher Confession gehören dieselben an?

    Wieviel derselben sind etwa in den russischen Unterthanenverband eingetreten?
    Auf wie hoch beläuft sich die Zahl derjenigen Deutschen im Königreich Polen, welche sich die Eigenschaft als Deutsche in der Heimath erhalten haben?
    In welcher Gegend sind sie hauptsächlich angesiedelt?

    Inwieweit nehmen dieselben den Schutz des Generalkonsulats in Anspruch?

    Ferner
    Inwieweit läßt sich annehmen, daß Leute dieser Art für den etwa ihnen zu Theil gewordenen Schutz irgend welche Leistungen gewähren?

    Als Grundsatz gilt, daß wir Rußland gegenüber vermeiden müssen, deutschen Einwanderern mehr Interesse zu zeigen, als wir wirklich an ihnen haben und bei den Russen, wie z. B. bei Aksakow, den Verdacht zu erwecken, als lägen jener Auswanderungsbewegung Germanisirungspläne zu Grunde.

    Ew. pp. wollen daher diesen Anlaß benutzen, um Vermuthungen solcher Art, wenn sie Ihnen begegnen sollten, auf das Entschiedenste zurückzuweisen; auch das Geeignete thun, um derartige Vermuthungen durch Ihre Haltung zu entkräften.
    Es handelt sich hier nicht um Germanisirung slavischer Strecken, sondern um die sichere Russifizirung oder zunächst Polonisirung derjenigen Deutschen, welche sich in Polen niederlassen und ihrer deutschen Heimath verloren gehen.

    Zunächst ersuche ich Ew. pp. um Uebermittelung statistischer Angaben über die in ihrem Amtsbezirk wohnhaften Deutschen im Sinne der Aksakow’schen Fragen und ich bemerke dabei noch, daß mir insbesondere erwünscht sein würde auch zu hören:
    ob und eventl. wohin jene Leute deutsche Steuern zahlen, so lange sie deutsche Staatsangehörige sind?

    Wo sie als Wehrpflichtige controlirt werden?
    und
    ob dieselben sich angelegen sein lassen, durch Eintragung in die Matrikel die Reichsangehörigkeit sich zu wahren?

    Einiges Material in dieser Beziehung liefert Ihnen die Konsulats-Matrikel, aus der Sie anführen wollen, wieviel Personen überhaupt eingetragen worden sind, darunter wieviel aus jedem einzelnen Deutschen Staate.

    Gleichzeitig wünsche ich Bericht darüber, welche konsularische Leistungen für die deutschen Unterthanen in Polen stattfinden und welche davon sich zur Erhebung von Sporteln für ihre Gewährung eignen.