Brief von Franz von Rottenburg an Otto Hellwig, Berlin, 21. Januar 1885

     

    Euer Hochwohlgeboren bittet der Herr Reichskanzler, ihm einen Entwurf zu einem Erlaß an die Kaiserlichen Botschafter und Gesandten betreffend die Einführung eines Normalarbeitstages vorzulegen. In demselben wird Folgendes auszuführen sein:

    Unter den Petitis [Verlangen] der arbeitenden Bevölkerung nimmt das nach einem Normal- bez. Maximalarbeitstag die erste Stelle ein; die Frage nach Einführung desselben ist denn auch in unserem Reichstage bereits wiederholt zur Sprache gebracht worden. Auch gegen den Willen der Regierung nimmt diese Frage einen internationalen Charakter an. Jede Beschränkung der Arbeitszeit hat zur nothwendigen Folge eine Erhöhung des Lohnkontos, also eine Steigerung der Productionskosten, wie S[eine] Durchlaucht des Näheren in seiner Rede im Reichstag vom 9. Januar 1882 (cf. die Stenographischen Berichte S. 487, 488) nachgewiesen hat. Wollte ein Staat einseitig mit einer solchen Institution vorgehen, so läge die Gefahr nahe, daß die inländische Industrie durch die ausländische Concurrenz erdrückt würde, daß erstere zu Grunde ginge und das Loos der arbeitenden Bevölkerung nicht nur nicht verbessert sondern bedeutend verschlimmert würde. Der Versuch der Einführung eines Normalarbeitstages kann daher nur unter Mitwirkung sämmtlicher Culturstaaten unternommen werden.

    Der Herr Reichskanzler ist sich wohl bewußt, welche Schwierigkeiten einem solchen Versuche entgegenstehen. Schon allein die heterogene Gestaltung der Arbeiterverhältnisse in den verschiedenen Ländern wird es unmöglich machen, zu einem sofortigen Ergebniß zu gelangen. Nichtsdestoweniger glaubt Seine Durchlaucht, daß die Frage des Normalarbeitstages einer eingehenden Prüfung Seitens der Regierungen unterzogen werden sollte. In unserm wirthschaftlichen Leben zeigt sich nicht selten die bedauerliche Erscheinung, daß das Capital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstages erheblich überschreitet und schon zur Beruhigung ihres Gewissens sollten die Regierungen Alles, was in ihren Kräften steht, versuchen, um prophylactisch gegen einen solchen Uebelstand vorzugehen. Jeder Schritt in dieser Richtung würde außerdem dazu dienen, die arbeitende Bevölkerung an den Staat zu ketten, indem er dieselbe in der Ueberzeugung bestärkte, daß die Regierungsgewalt thatkräftig für die Verbesserung des Looses der Arbeiter eintritt.

    Seine Durchlaucht wünscht, daß die fremden Regierungen durch unsere Missionschefs befragt werden, ob sie geneigt seien in Verhandlungen über den Normalarbeitstag einzutreten, bei denen es sich zunächst darum handeln würde, die Erfahrungen auszutauschen, die dieserhalb in den einzelnen Ländern gemacht worden sind. Die Anfrage soll sich gleichzeitig darauf richten, ob die betreffende Regierung es für thunlich erachte, den Austausch der Erfahrungen und Auffassungen auf einer Conferenz zu bewirken.

    Diesem allgemeinen Theil des Erlasses ist für die Missions-Chefs in denjenigen Ländern, in welchen Gesetze betr. den Normalarbeitstag bestehen oder doch bestanden haben, ein specieller Zusatz beizufügen, in welchem auf die bezügliche Gesetzgebung aufmerksam gemacht wird.

    Ich erlaube mir zu bemerken, daß in „Karl Marx, Das Capital“ (3. Auflage) sich Nachweisungen darüber finden, in welchen Ländern Versuche mit dem Normalarbeitstag gemacht worden sind, und zwar für England auf S. 262 ff., für Oesterreich S. 269, für die Schweiz S. 268, 269, für Frankreich S. 268 und 295. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Frage des Normalarbeitstages Seitens der Arbeiter angeregt worden. Marx S. 296.