Brief an Heinrich zu Reuß, Friedrichsruh, 27. Dezember 1887

     

    Geheim.
    Der Oesterreichisch-Ungarische Botschafter hat den zu Euerer Durchlaucht vertraulicher Kenntnißnahme abschriftlich mit meinen Marginalien hier beigefügten Erlaß des Grafen Kálnoky vom 22. cr. zu meiner Kenntniß gebracht.

    Die im österreichischen Generalstabe redigirte Anlage jenes Erlaßes, welche im Original dem Grafen Moltke vorliegt, bin ich zu beurtheilen nicht berufen und enthalte mich deshalb einer Besprechung derselben: es handelt sich darin um militärische Fragen, deren Prüfung dem Generalstabe obliegen wird.

    Soweit die Politik dadurch berührt ist, möchte ich für Euere Durchlaucht persönlich bemerken, daß Inhalt und Fassung mir einen mehr oberflächlichen als fachlichen Eindruck macht. Ich gehe auf die einzelnen Fragen nicht ein, schon weil die meisten nach Inhalt und Fassung jede Möglichkeit der Beantwortung ausschließen, und beschränke mich darauf, zu wiederholen, daß ich alle Verabredungen, welche ein aggressives Vorgehen zu Voraussetzung oder zum Ziele haben, von der Hand weisen muß.

    Ich glaube, daß der Chef unseres Generalstabes auf die Mehrzahl der von seinem österreichischen Collegen ausgehenden Fragen durch Aufstellung von Gegenfragen wird antworten müssen:

    Graf Moltke wird zuerst zu wissen nöthig haben, welche Kräfteentfaltung Oesterreich in Aussicht nimmt und wie seine Heere aufmarschiren sollen, bevor er sich ein Bild von den Leistungen macht, durch welche wir beim Eintritt des casus foederis [Bündnisfall] zweckmäßig eingreifen werden. Die Entschließungen der österreichischen Militär-Leitung werden aber wieder einigermaßen durch die Art und die Oertlichkeit des russischen Angriffs bedingt sein, welcher ihnen vorhergehen muß, um den casus foederis herzustellen.

    Ich kann mich nach Lectüre der Anlage des Eindrucks nicht erwehren, daß in gewissen militärischen Kreisen Wiens die Absicht besteht, unser Defensivbündniß zu verschieben, und betone deshalb wiederholt, daß es für keinerlei offensive Zwecke geschlossen wurde. Graf Kálnoky ist mit mir darüber vollkommen einverstanden. Wir müssen nur beiderseits darauf achten, daß die Berechtigung, unsere Monarchen politisch zu berathen, nicht factisch unseren Händen entgleite und auf die Generalstäbe übergehe.

    Wir dürfen solche Bestrebungen nicht über die von mir Euerer Durchlaucht gegenüber mündlich bezeichneten Linie hinaus ermuthigen und durch unsere Empfehlungen starker Rüstung auf den Fall russischen Angriffs nicht die Vermuthung erwecken, daß wir einen österreichischen Angriff auf Rußland mitmachen oder unterstützen würden. Unser Eintreten in den eventuellen Krieg wird durch den russischen Angriff auf Oesterreich prinzipiell bedingt; eine gleichzeitige Kriegserklärung oder Mobilmachung, welche in dem militärischen Fragebogen Erwähnung finden, kann daher nicht vorkommen, weil Oesterreich wenn casus foederis für uns eintritt, bereits von Rußland angegriffen und mit ihm im Kriege sein wird.

    In welcher Weise wir dann ein- und Rußland angreifen, das wird wesentlich davon abhängen, einmal wo der russische Angriff auf Oesterreich erfolgt, mit welchen Kräften letzteres ihm entgegentritt, wieviel Truppen es sofort und wie viel in jeder demnächstigen Woche wird aufstellen können.

    Daß für uns der Krieg gegen Frankreich dem Ausbruch des russisch-deutschen Krieges unverzüglich folgen wird, ist nicht zweifelhaft: Sollte er wider Erwarten nicht von selbst eintreten, so würde es für uns mehr oder weniger geboten sein, ihn ohne Verzug herbeizuführen. Wir können einen Krieg nach Osten so lange nicht mit voller Kraft und weit über unsere Grenzen hinaus leisten, als wir noch die volle französische Macht ungeschwächt und angriffsbereit im Rücken haben. Wir wissen nicht, wie es in dem Fall dann in Frankreich aussehen wird, aber wenn unser Friede dort nicht gesicherter ist, wie heute, so wird es vielleicht geboten sein, daß wir dem Ausbruche des russisch-österreichischen Krieges unsere Kriegserklärung gegen Frankreich folgen lassen, um dann nach Sicherstellung unserer Westgrenze unsere volle Macht gegen Rußland zur Verfügung haben.

    Ich bitte Euere Durchlaucht, diese letzten Erwägungen durchaus zu secretiren und das im Eingang Gesagte nur als zur Regelung Ihrer vertraulichen mündlichen Rückäußerung auf den vom Grafen Széchényi mitgetheilten Erlaß bestimmt anzusehen. Euere Durchlaucht wollen meinen Dank für die in dem letzteren enthaltenen Mittheilungen an Graf Kálnoky aussprechen, dabei aber ausdrücklich bemerken, daß es nicht meine Sache sei, die militärischen Anfragen zu erwägen.

    Sie können dabei einfließen lassen, daß ich einen unerwarteten russischen Angriff allerdings für möglich hielte, und deshalb wünsche, daß Oesterreich durch einen solchen nicht militärisch überrascht würde: je stärker sich Oesterreich macht, desto schwächer wird die Versuchung für Rußland, den Krieg zu beginnen. Einstweilen halte ich den Krieg nicht für nahe bevorstehend und werde mein Möglichstes thun, um ihn zu vermeiden. Der Kaiser Franz Joseph theilt meine friedlichen Wünsche. Damit wir aber denselben entsprechend die Aussichten auf die Bewahrung des Friedens verstärken können, ist es nothwendig, daß Oesterreich unserem Beispiele folgen und so stark, vielleicht stärker wie jetzt gerüstet bleibe: andernfalls gewährt es Rußland eine Verlockung zum Angriff. Die Größe der Calamität, welche für die Völker Oesterreich-Ungarns und Deutschlands mit einem französisch-russischen Kriege, wie immer er ausfallen mag, verbunden sein wird, legt uns die Pflicht auf, den Ausbruch desselben, wenn wir es können, zu verhüten, und jedenfalls der göttlichen Vorsehung nicht dadurch vorzugreifen, daß wir ihn herbeiführen, ehe er sich uns aufdrängt. Die Zeit läuft mehr zu unseren als zu Gunsten der Gegner; in Frankreich wie in Rußland sind die Zustände gespannter als bei uns, und können zu innern Entwickelungen dieser Länder führen, welche uns eines Kampfes von so riesigen Dimensionen überheben würden. Wir dagegen glauben, in 2 bis 3 Jahren stärker zu sein wie heut, im Innern wie nach außen; die volle Kraft des Deutschen Volkes werden wir aber nur für einen defensiven Krieg, für Abwehr eines Angriffs in Thätigkeit bringen können. Den Beweis, daß wir den Krieg, weil er später doch ausgebrochen wäre, jetzt führen müßten, und daß die Umstände dazu heut günstiger wären wie später, wird man nicht einmal den Parlamenten, viel weniger dem Volke führen können, und Niemand kann vorhersehen, ob der Erfolg der Behauptung entsprechen wird, daß der Zeitpunkt zum Losschlagen jetzt der günstigste sei.

    Wenn Feldmarschall Lieutenant von Beck Euerer Durchlaucht Anfang diesen Monats sagte; „er bedürfe 6 Wochen, um eine ersprießliche Mobilmachung auch nur einleiten zu können“, so hoffe ich, daß Oesterreich die vor uns liegende Zeit benutzen wird, um diese bedenkliche Lücke aufzufüllen und stärker zu rüsten. Die Zeit läuft zu Gunsten Oesterreichs: Jetzt ist es mit seinen 3 Gewehrarten und fehlenden Montirungen etc. schwächer als es in Jahresfrist sein wird, wenn es die Hauptsache nicht aus den Augen läßt, nämlich mehr Geld auf die Armee zu verwenden. Auch wir bedürfen noch der Zeit, um in der Vollzahl, die unser neues Landwehrgesetz für das deutsche Heer in Aussicht nimmt, so gerüstet zu sein, wie wir es für nöthig ansehen, bevor wir in unseren Bemühungen für die Erhaltung des Friedens nachlassen können. Ich halte daher an der Hoffnung fest, daß Graf Kálnoky nach wie vor mit uns bemüht sein werde, den Krieg zu verhüten oder doch aufzuschieben, und daß wir uns die Verantwortlichkeit dafür nicht von militärischen Rathgebern aus der Hand nehmen lassen.